Sreten Ugričić, Philosoph, Bibliothekar, Autor von neun Büchern und gegenwärtiger Stipendiat an der Stanford Universität, arbeitet an einem einmaligen Projekt über Kunst, die sich selbst suspendiert. In Umkehrung von Marcel Duchamps „Readymade“, nennt Ugričić sein Vorhaben „Meadyrade“:
Was geschieht mit der Kunst, wenn sie von einer unwirtlichen, kranken, korrupten und bankrotten Imagination umgeben ist? Unter diesen Umständen tut die Kunst das Bestmögliche: sie bringt sich selbst zum Verschwinden – so Ugričić.
Der Verein KROKODIL und sein gleichnamiges regionales Literaturfestival wurden 2009 gegründet. Das erklärte Hauptziel von KROKODIL war und ist es, die Verbundenheit und den Austausch zwischen den Kulturen unterschiedlicher Länder zu fördern – gerade auch wegen dem gewaltsamen Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens in Nationalstaaten.
Mittlerweile hat KROKODIL mit seinem eigenwilligen Festivalkonzept und der Versammlung der spannendsten literarischen Stimmen in Exjugoslawien Kultstatus erlangt: Autoren und Autorinnen lesen in ihrer Originalsprache aus ihren Texten, die Übersetzung wird auf eine Leinwand projiziert. Zu den Texten werden Bilder gezeigt, die Künstler und VJs konzipiert und ausgewählt haben.
Im Centopassi werden Sie die Gelegenheit haben, die genaueren Hintergründe zu erfahren, warum KROKODIL gegründet wurde und in welchem kulturpolitischen Umfeld das Festival und der Verein sich heute bewegen. Darüberhinaus lesen Daša Drndić, Vladimir Arsenijević und Sreten aus ihren Texten; der Lyriker und Musiker Jurczok 1001 wird live intervenieren.
WELCOME KROKODIL!
Wir freuen uns auf Sie, auf Euch!
27. Oktober, 19 Uhr im Cento Passi, Stauffacherstrasse 119, hundert Schritte vom Helvetiaplatz entfernt.
Eintritt: 20.- CHF, mit Legi 15.-CHF
https://www.youtube.com/watch?v=oC5JBxuNfKs
https://www.youtube.com/watch?v=OtjWUD2m0F8
http://www.krokodil.rs
Melinda Nadj Abonji & Jurczok 1001
Performance im Rahmen von „Wechselstrom“
Autorinnen aus Mittel- und Osteuropa auf Tournee
Roter Salon, Volksbühne Berlin
27. Oktober 2007
Melinda Nadj Abonji & Jurczok 1001
Performance im Rahmen von „Wechselstrom“
Autorinnen aus Mittel- und Osteuropa auf Tournee
Roter Salon, Volksbühne Berlin
27. Oktober 2007
Daša Drndić: Sonnenschein. Fraktura Verlag, April 2007.
]]>
In Nevesinje lebten sie so gut es eben ging – die Stadt hatte in dieser Zeit noch nicht einmal Strom – doch mit der Hoffnung, in einigen Jahren an einen besseren Ort umzuziehen. Nach Sarajevo, zum Beispiel. Und vielleicht einmal, mit etwas Glück und guten Beziehungen, sogar nach Belgrad!
Der Krieg, der im April 1941 ausbrach, hinderte sie jedoch daran. Für immer. Alle Pläne vernichtete er in einem Zug und zerstreute ihre zerbrechlichen Leben, die bis dahin zusammengehalten wurden von dem durch nichts begründeten Glauben an dieses „bessere morgen“, welches in Wirklichkeit nirgendwo in Aussicht war.
Nach raschem Abschied von seiner Frau und seinen Kindern ging mein Grossvater in den Krieg. Seine Frau wird er nie mehr sehen – sie wird sterben, erschöpft, in jenen ersten schweren Nachkriegsjahren im serbischen Požarevac – und die Töchter wird er erst viele Jahre später treffen. Bis zum Zusammenbruch Jugoslawiens (das Königreich Jugoslawien kapitulierte am 17. April 1941 vor den Achsenmächten, Anm. des Übersetzers) kämpfte er in der Umgebung von Nevesinje gegen die Italiener, dann wurde er gefangen genommen und mit einer Gruppe anderer Offiziere in das so genannte Campo 64 in den Norden Italiens verfrachtet.
So endete der Krieg für ihn gleich da, gleich zu Beginn. In den folgenden zweieinhalb Jahren sah er zu, dass er irgendwie zurecht kam mit der Einsamkeit, der Hilflosigkeit, der Rechtlosigkeit, dem Hunger sowie mit dem akuten Mangel an Informationen darüber, was in der Aussenwelt geschah. Durch die dichten Rollen des Stacheldrahtes und die Gitter an den Barackenfenstern beobachtete er die Jahreszeiten, wie sie sich abwechselten an den milden Hügeln und an den massiven, dunklen Ablagerungen der Dolomiten im Hintergrund und diese fast unwirkliche Schönheit der Natur machte seine armselige Lage nur noch schwerer.
Wie viele andere ging auch mein Grossvater in den Krieg bereit zu sterben oder schwer verletzt zu werden, nicht aber um in Gefangenschaft zu geraten. Der Mangel an Freiheit nagte an ihm Tag für Tag. Wie die Zeit fortschritt, wurde er sich selbst immer unerträglicher. Das einzige, was er wirklich wünschte, war, sich hinzulegen, die Augen zu schliessen und irgendwohin zu schweben, wohin auch immer. Wenn möglich für immer. Wandte sich ihm jemand zu, erwachte in ihm eine irrationale Wut. Er hasste alles und jeden. Er war sicher, den Verstand zu verlieren.
Er war nicht der einzige. Zwar durften die gefangenen Offiziere ihre Uniformen behalten und tragen, sie erhielten täglich zwei (wenn auch magere) Mahlzeiten und es stand ihnen sogar eine Krankenstation zur Verfügung – all dies konnte sie aber nicht vor schwerer Verzweiflung retten. Die Atmosphäre in den Gefangenenbaracken wurde immer schlimmer. Die einstigen Mitkämpfer und Freunde teilten sich in Lager auf und beschuldigten einander für Dieses und Jenes und aus allen möglichen Gründen. Und alle Jugoslawen zusammen befanden sich oft auch in verschiedenen sinnlosen Streitigkeiten mit Angehörigen anderer Nationalitäten: mit Iren, Schotten, Engländern, Neuseeländern, Australiern usw., mit welchen sie gezwungen waren, das vollgestopfte Lager zu teilen.
Diesen Zustand der kolossalen Apathie und Trägheit gemischt mit unkontrollierten Ausbrüchen irrationalen Hasses gegen alles, was sich bewegt, so auch gegen sich selbst, nannten sie einfach „Absterben“. Erst später erfuhren sie, dass britische Offiziere schon eine etwas geistreichere Bezeichnung für das gleiche Syndrom erdacht hatten: „Gefangenitis“, nach dem deutschen Wort „gefangen“. Die Gefangenenkrankheit also. Der äusserste Verlust von Lebensenergie, Schlaflosigkeit, Paranoia, verschiedenste neurotische Symptome, Hypochondrie, Hysterie und ein chronischer Geruch des Todes in der Nase, das ist es, was mein Grossvater wie auch die Mehrheit der anderen Gefangenen in Kriegslagern im Norden Italiens von 1941 bis 1943 erlitt.
Und als es im Spätsommer 1943 zum Zusammenbruch des faschistischen Italiens kam, verliessen die Wächter wortlos die Lager und liessen die Tore weit offen. Die Mehrheit der Gefangenen ging damals zu Fuss über die Alpen und erreichte irgendwie die Grenze zur Schweiz, wo sie schliesslich auf freiem Territorium empfangen wurden. Aber nicht als freie Menschen.
Von neuem wurden sie interniert in eine Art Empfangszentren. Obwohl dort die Bedingungen bedeutend humaner waren als in den Lagern, aus welchen sie geflohen waren, mussten sie warten, bis ihr Status rechtlich gelöst war und es verging noch ziemlich viel Zeit, bevor man ihnen provisorische Papiere und dann die so genannten Nansen-Pässe bewilligte, ein Reisedokument für Flüchtlinge, welches von dem damaligen Völkerbund herausgegeben wurde. Der Krieg war schon vorbei, als ihnen als politische Asylanten die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in der wohlhabenden, angenehmen, schönen und von kriegerischer Zerstörung verschonten Schweiz genehmigt wurden.
In der Zeit, aus der ich mich an ihn erinnere, in der Mitte der 70er Jahre, war mein Grossvater bereits Rentner in ehrenwertem Alter, einfach angezogen, aber mit einer Art Reinheit und Ordentlichkeit, die in der Zwischenzeit völlig verschwunden sind. Es gibt heute nichts mehr so Gestärktes, wie seine Hemden es waren, nichts mehr so richtig und glatt Gebügeltes, wie es die Linien seiner Stoffhosen waren oder das Revers seines Mantels, nichts Glänzenderes als seine immer polierten Schuhe und nichts Steiferes als seinen Hut mit schmaler Krempe. Er ging sehr gerade, mit der Spitze seines Stockes auf die Zürcher Bürgersteige und Kopfsteinpflaster klopfend. Obwohl er bescheiden lebte, wirkte dies damals auf mich so, als sei für ihn dieser ganze Glanz, der mich blendete, äusserst natürlich.
Heute aber sehe ich ein, dass dies gar nicht zutreffen konnte und dass sich mein Grossvater als absoluter Fremder fühlen musste in einer Umgebung, der er auf der einen Seite lebenslang dankbar war und die ihm gegenüber wohlwollend war, in der er aber trotzdem in einer unaufhörlichen, stillen Erniedrigung lebte. Da die Schweiz die Militärschulen, die er abgeschlossen hatte, nicht anerkannte, blieb ihm nichts anderes als die Anstellung als Arbeiter in einer Kugellagerfabrik. Eine Wahl hatte man im Übrigen beinahe nicht, er steckte fest, nach Hause konnte man nicht und er machte einfach das, was er musste
Aber als die Jahre vorüber gingen, kehrte jene Gefangenenmelancholie immer öfter zurück, um ihn heimzusuchen. Er schleppte sich still und lustlos durch das Leben, er kam nicht voran, auf das Ende seines Arbeitslebens wartete er in der Fabrik, Deutsch sprach er mit Schwierigkeiten, er heiratete nicht noch einmal, er ging nie nach Jugoslawien zurück, sogar nicht einmal als es wieder möglich war, er wurde auch nie Schweizer, er blieb für immer ein Besitzer des Nansen-Passes, ein Staatenloser, ein lebenslanger Flüchtling und ein lebenslanger Lagerhäftling angesteckt mit dem unheilbaren Virus der Gefangenitis.
Die Winterferien 1975 verbrachte ich bei ihm in Zürich. Ich war damals zehn Jahre alt. Das war das erste Mal, dass ich alleine ins Ausland reiste. Und es gefiel mir sehr mit ihm in diesen kalten Januartagen. Zwar wunderte ich mich über seine Gewohnheit, den herben Schweizer Käse Greyerzer auf mit Aprikosenkonfitüre bestrichenem Schwarzbrot zu essen wie auch Blutorangen, die er, wie ich denke, kaufte, weil sie die billigsten waren. Ich wunderte mich über seine unverständlichen Geschichten aus der Gefangenschaft wie auch darüber, dass er unverhohlen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und den Genossen Tito hasste, aber ich muss gestehen, dass er sich trotz allem, was mich an ihm verwirrte, mit mir so beschäftigte wie man von einem Grossvater, der nicht nur das Aufwachsen des Enkels, sondern auch der eigenen Tochter verpasst hatte, überhaupt nur erwarten konnte.
Er führte mich zum Mittagessen in sein Lieblingsrestaurant, dann zum Zürichsee, um Schwäne zu füttern, er führte mich in den Zoo, ins Schwimmbad und auf lange Spaziergänge durch die Stadt, ja sogar in die Kneipe, wo er sich jeweils am Samstagabend mit seinen Freunden traf, den ehemaligen Offizieren, mit denen er einmal vor langer Zeit aus dem Lager Campo 64 geflüchtet war, um einen-zwei zu trinken und einige Runden Karten zu spielen. Als wir nach Hause gingen, war es schon spät und sehr kalt. Ich hielt seine Hand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, wirklich einen Grossvater zu haben.
Zu dieser Zeit liebte ich es, unbekannte und merkwürdige Wörter zu sammeln. Und als ich am letzten Tag meines Aufenthalts in Zürich meinen Grossvater bat, auf die letzte Seite meines Heftes ein unbekanntes Wort zu schreiben, dachte er nach, dann dachte er noch einmal nach, dann lächelte er über sich selbst und schrieb mit zitternder Handschrift: Gefangenitis.
„Gefangenitis“, las ich mit Bewunderung. „Was heisst das?“
„Das ist eine ekelhafte Krankheit, die ich mir in der Gefangenschaft zugezogen habe“, sagte mein Grossvater und streichelte mir über den Kopf. „Und niemals habe ich mich von ihr vollständig erholt“.
Ich flog zurück nach Hause, dieses ungewöhnliche Wort im Munde wendend. Mein Grossvater zog kurz danach, ich denke noch im gleichen Jahr, aus seiner Wohnung in der Berninastrasse in Oerlikon in ein Quartier, in welchem ausschliesslich Rentner mit tiefem Einkommen, wie er einer war, wohnten. Ich sah ihn nur noch einmal, als Schwester, Mutter, Vater und ich ihn im Sommer 1978 besuchten. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Grossvater erzählte wieder von der Zeit, die er im italienischen Lager verbrachte und ich hörte ihm damals mit verstärkter Aufmerksamkeit zu. Aber danach dachte ich lange nicht an ihn. Ich war wie jeder Pubertierende hoffnungslos und ausschliesslich auf mich selbst konzentriert. Und mein Grossvater unterschrieb ruhig den Pakt mit dem Alter. Ich habe den Eindruck, dass er es mit Vergnügen angenommen hat. Zehn Jahre später empfing ihn in Oerlikon der stille Tod.
Viel mitzunehmen hatte er nicht. Lediglich seine Einsamkeit, seine beunruhigende historische Erfahrung sowie seine chronische Krankheit, Gefangenitis.
Erst kürzlich bin ich nach vielen Jahren wieder in die Schweiz gereist. Ich hatte Lesungen in Basel und Thun und nutzte den letzten Tag meines kurzen Aufenthaltes, um einige Stunden allein in Zürich zu verbringen, in der Stadt, die ein wichtiges Toponym meiner Kindheit und meines Erwachsenwerdens darstellt.
Und Zürich erwartete mich tatsächlich elegant und wunderschön, so wie ich mich an es erinnerte, aber gänzlich fremd. Ich spazierte in der Gegend um den Hauptbahnhof, beobachtete das ruhige Flusswasser der Limmat, versuchte erfolglos mich an die gemeinsamen Wege mit dem Grossvater zu erinnern, ging die steilen Treppen der Altstadt hinauf und durch die engen Strassen, die nach Parfum duften, umgeben von Reichtum und Luxus, und in einem Augenblick fühlte ich mich unendlich isoliert von all dem, von diesem schweizerischen, durch Jahrhunderte hindurch gefestigten Wohlstand, der in einem solch scharfen Kontrast mit meiner Lebensumgebung und mit meiner historischen Erfahrung stand, genau gleich wie er in Kontrast mit der Lebensumgebung und der historischen Erfahrung meines Grossvaters stand, eines lebenslangen Staatenlosen, eines Menschen ohne Heimat, ohne Familie, ohne Ideologie, ohne Beruf, ohne Sinn, ohne Freiheit.
Und ich erinnerte mich an seine schwere Gefangenenmelancholie wie auch an all die Kriege, durch die wir von Generation zu Generation gingen sowie an verschiedene andere Tragödien und Verrücktheiten unseres Zeitalters, welche wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, auf den Schultern zu tragen gezwungen sind. Auf der Spitze des Hügels stehend, betrachtete ich die reiche Stadt, wie sie sich unter mir ausbreitete und fühlte stärker als je zuvor, dass wir alle nur Gefangene dessen sind, was wir „historische Erfahrung“ nennen, Blätter in unruhigem Wind, unfähig auf irgend etwas Einfluss zu nehmen, sich selbst oder anderen zu helfen, die eigene schlechte Umgebung zu ändern, rechtlos, unfrei und – genau wie mein armer, verstorbener Grossvater, der es nie schaffte, vollkommen Herr seines eigenen Schicksals zu werden – lebenslang infiziert mit dem Virus einer unheilbaren Krankheit, der Gefangenitis.
Aus dem Serbischen übersetzt von Jan Dutoit. Eine gekürzte und leicht abgeänderte Version erschien am 24.11.2011 in der WOZ (Nr. 47, S. 21) unter dem Titel „Die seltsame Krankheit meines Grossvaters“.
Vladimir Arsenijevic (1965) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Serbiens. Bevor er 1994 mit seinem Antikriegsroman „U potpalublju“ (auf Deutsch erschien der Roman 1996 unter dem Titel „Cloaca Maxima. Eine Seifenoper“), der als Kultbuch einer Generation gilt, debütierte, spielte er in den achtziger Jahren in einer der ersten Belgrader Punkbands, absolvierte eine Kochausbildung und verbrachte mehrere Jahre in London. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller bemüht er sich seit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien als Verleger und Organisator von Literaturfestivals um eine stärkere Vernetzung der Literaturszenen in der Region. Arsenijevic lebt und arbeitet in Belgrad. Ende September war er zu Gast im Literaturhaus Basel und am Literaturfestival Literaare in Thun (siehe WOZ Nr. 37/11)
]]>
Erinnerungsfetzen
Mitzuteilen, was man sieht, schafft Orientierung und Verständigung. Diese Informationen verraten jedoch oft mehr über den, der sich äussert, als über das, was dieser sieht. Noch schwieriger wird es, wenn wir, losgelöst von der Person, nur noch die Gegenstände vor uns ausgebreitet finden, die sich irgendjemand bei einem Gang durch die Welt eingeprägt hat. Wir wissen nicht, warum gerade dies oder jenes mitgeteilt wird. Dass die Begegnung mit einem isolierten Gegenstand unvermutet zum Rätsel werden kann – diese Erfahrung wird vor jedem Bild Velimir Ilisevics neu zur Gewissheit. Denn die Bilder lassen uns auch in Bezug auf die Hintergründe, auf denen das Fragmentarische erscheint, fast durchwegs im Ungewissen. Es ist etwas da, das ist alles, worüber Sicherheit besteht: Ein Kinderschlitten, ein Gummiboot, zwei Stiefel, drei schwarze Kohlebügeleisen, ein Anzahl Fische, eine Axt, Herzhälften … Kommt hinzu, dass alle diese Objekte ihre Autonomie eingebüsst haben. Sie treten nicht als Körper im Raum in Erscheinung, wie zum Beispiel ein Schlitten, den man von der Seite sieht, denn prinzipiell gesteht dieser Maler seinen Gegenständen keine Räumlichkeit zu. Genau genommen malt er sie durchwegs als ausgeschnittene Flächen. Stets sind sie so wiedergegeben, wie man sie aus grosser Distanz von oben sehen würde, als ausgefranste Flecken, deren flackernde Beschaffenheit an die nervösen Fingerabdrücke auf Alberto Giacomettis späten Plastiken erinnert. Verloren gehen mit dem Entzug der Körperlichkeit auch die physikalischen Eigenschaften. Das Glätteisen wirbelt auf der gestisch bewegten Bildstruktur wie ein Blatt im Wind, und die Stiefel treiben auf den Kopf gestellt auf gekräuselten Farbwellen Wasservögeln gleich in starker Strömung.
Velimir Ilisevic ist nicht der erste Maler, der der Welt Gegenstände entnimmt und sie als körperlose Erinnerungsfetzen auf gestisch-abstrakten Malgründen stranden lässt. Einer der Künstler, an den diese Malerei erinnert, ist Philip Guston, ein anderer Georg Baselitz. Doch tritt Ilisevic diesen Vorgängern nicht als Adept entgegen, sondern als einer, der aus seiner persönlichen Geschichte heraus zu analogen Schlüssen gelangt ist und diese kraftvoll eigenständig neu zu formulieren weiss.
Unabhängigkeit
Die Benennung der Bildgegenstände auf Ilisevics Gemälden und Aquarellen verringert die Distanz zum Wesenskern seiner Kunst in keiner Weise; ebenso wenig das Anführen von Künstlernamen, die bei der ersten Sichtung seinen Werken als mögliche Vorbilder dienten. Und wie steht es mit der Verortung in der jungen zeitgenössischen Malerei? Auch hier gibt es kaum Positionen, die Ilisevics Malerei wirklich nahe kommen. Vor allem ihr prekäres Balancieren auf Messers Schneide zwischen Abstraktion und Figuration verleiht ihr – in dieser Ausprägung – Einmaligkeit. Diese Malerei ist immer beides gleichzeitig: abstrakt-expressive Strukturfeldmalerei und assoziative Objektvergegenwärtigung – nicht im abbildendend-illusionistischen Sinne, sondern als ein gerade noch entzifferbares Zeichen. Dabei stehen die Piktogramme, die dieser Künstler malt, der Höhlenmalerei von Lascaux mit Bestimmtheit näher als irgendeinem Zeichensystem unserer Gegenwart.
Ilisevic ist als Künstler ein wirklich Unabhängiger.
Herkommen
Einen wesentlichen Teil seiner Selbstständigkeit verdankt Ilisevic seiner Herkunft. Geboren 1965 in Sisak (heute Kroatien), kam er vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens und den nachfolgenden Balkankriegen in die Schweiz. 1992 besuchte er in Zürich den Vorkurs in der Schule für Gestaltung. Da er erst 2010 Schweizer Bürger werden konnte, waren Reisen vor diesem Datum nur illegal möglich. Dazu entschloss er sich, um in Amsterdam und Otterlo die Werke Vincent van Goghs studieren zu können. Seit knapp fünf Jahren lebt er mit seiner Familie abseits der Kunstszene in Stein am Rhein. Unabhängig zu sein, ist ihm lebensnotwendig. Erfolg bedeutet Kampf um Anerkennung. Galerien, Ausstellungen und Museen müssen regelmässig besucht, Beziehungen aufrechterhalten werden. All diesen Aufwand zu leisten, ist dem Künstler als Ablenkung von seiner Arbeit zutiefst verhasst. Er ist deshalb, nicht als Mensch, sondern als Künstler ein ausgesprochener Einzelgänger.
Magische Augenblicke
Kreativität heisst für Ilisevic, Bildmotive aufzuspüren, die ihm frühe, prägende Lebenseindrücke in konzentrierter Form vergegenwärtigen, um sie in einem zweiten Schritt in seiner Malerei neu zu realisieren. Ilisevic ist wie Robert Walser ein zielloser Spaziergänger, der so lange umherstreift, bis er plötzlich vor dem steht, was andere überschauen, er jedoch als Offenbarung empfindet. Nur das ziellose Unterwegssein dem «Flussentlang» führt zur Entdeckung des magischen Augenblicks, in dem im Aussenbild das Erinnerungsbild aufblitzt. Dieser entscheidende Moment ist extrem flüchtig. Fotografisch liesse er sich kaum einfangen. Ilisevic ist denn auch kein Fotojäger, der auf der Lauer liegt, um das entscheidende Bild schiessen zu können. Er hält seine Eindrücke höchstens in wenigen Bleistiftstrichen fest, die ihm später im Atelier als erste Orientierungspunkte für ein Gemälde dienen können. Denn das Malen selbst dient ihm als entscheidendes Instrument, um das meist mehr Erahnte als wirklich Geschaute zum realen Bild werden zu lassen. Doch wie all diese extrem instabilen Erscheinungen in ein gemaltes Bild überführen? Die Blüten, die in der Strömung treiben, die Forellen, die in der Tiefe vorbeiflitzen, die Wolken, die sich im bewegten Wasser spiegeln, die Blätter an einem Strauch im Wind?
Wie van Gogh
Velimir Ilisevic antwortet auf die Geschwindigkeit, mit der sich ihm das aufscheinende Wunder offenbart und im nächsten Augenblick wieder entzieht, mit Gegengeschwindigkeit. Er malt schnell, ohne je zu zögern, getrieben von einer Vision wie sein grosses Vorbild Vincent van Gogh. In hastig hingesetzten pastos-breiten Pinselstrichen setzt er Bewegungsimpuls neben Bewegungsimpuls. Die Malfläche ist immer offen wie eine Ebene, über die Windböen ziehen. Die Pinselstriche fügen sich immer nur widerwillig zu Flächengebilden, die als eindeutige Gegenstandszeichen gedeutet werden können. Sie bilden mit den Zwischenpartien vielmehr einen unregelmässigen, heftig bewegten netzartigen Strukturverband. Manchmal bleiben auf seinen Bildern sogar ganze Bahnen der Leinwand unbemalt. Mit diesen Strategien wird manifestartig demonstriert, dass sich uns gegenüber keine Illusion von Wirklichkeit wie ein Fenster auftut. Vielmehr setzt das Bild die vitale Realität einer grundsätzlichen malerischen Strategie in Szene, die mit der Setzung expressiver Farbgesten operiert, von der sich wie Einfärbungen Gegenstandsflecken abheben.
Im freien Fall
Da die Gegenstände als reine Flächenmuster und ohne jede zentralperspektivische Orientierung auf den Grund gesetzt sind, bleibt es vollkommen offen, ob sich eine Szene frontal vor uns aufbaut oder ob sie aus der Vogelperspektive wiedergegeben ist. So bleibt auch unentscheidbar, ob etwas fest auf dem Boden steht, auf der Horizontalen schwebt oder wie eine Sternschnuppe im rasanten Fall an uns vorbei ins Bodenlose stürzt. Ilisevic malt Bilder, die verunsichern. Dazu gehört auch die malerische Realisierung. Da sich die Pinselstriche nie zu geschlossenen Oberflächen verbinden, sondern – wie auf einem massiv gestörten Fernsehbild der 1960er-Jahre – im Zustand flimmernder Auflösung verharren, ist auch die Frage der Distanz vollkommen offen. Unmöglich zu sagen, etwas sei ganz nah oder sehr fern.
Spolien
Ilisevics Bilder vergegenwärtigen malerische Tatsachen. Wie auf Cézannes Gemälden ist die Leinwand der Ort, auf dem sich Farben und Formakzente in jeder Hinsicht neuartig zu offenen, pulsierenden Flächenkompositionen verbinden. Irritierend ist, dass aus der Identifizierbarkeit einzelner Bildelemente kein zusammenhängendes Sinngefüge abzuleiten ist. Das, was sich auf den Gemälden und Aquarellen benennen lässt, spielt die Rolle von antiken Spolien in mittelalterlichen Stadtmauern. Wichtig ist die Mauer und nicht die in sie eingebaute Säulentrommel, die nur mehr als banaler Baustein dient. Was zählt bei Ilisevic, ist die strukturierte, von Energie aufgewühlte Malerei. Aber daraus zu folgern, der Gegenstand sei bloss Schall und Rauch, wäre ebenso falsch, wie wenn man den auf dem Kopf stehenden Adler auf einem Gemälde von Georg Baselitz als ungegenständliches Tapetenmuster abtäte. Denn Ilisevic tut alles, damit das Fragment die Sprache nicht verliert.
Exorzismus
Baselitz treibt den umgedreht dargestellten Motiven durch die exorzistische Energie des Malaktes ihre ursprüngliche Bedeutung aus. Er reduziert sie auf ihre blosse Hülle, über deren ursprünglichen Sinn neu gedacht werden soll. Analoge Prozesse durchlaufen Ilisevics Gegenstände, und seiner Arbeit liegen oft individuell erlebte Kriegserfahrungen von allgemeiner Relevanz zugrunde. Seine Familie erfuhr den Schrecken des Terrors während der Balkankriege in den 1940er- und 1990er-Jahren am eigenen Leib. Die Grossväter und Onkel des Künstlers waren während des Zweiten Weltkriegs Partisanen. Grossmütter, Tanten und auch die Eltern wurden in Konzentrationslager eingesperrt. Viele Familienmitglieder haben den Terror nicht überlebt. Diese Traumatisierung belastete die Familie enorm. Während der Kriege in den 1990er-Jahren war Ilisevic in der Schweiz. Von der Angst, dem Schmerz, dem Hunger und der Angst, denen seine Angehörigen damals erneut ausgesetzt waren, war er, wiederum indirekt, sehr stark betroffen. Vor diesem Hintergrund erhalten die Bilder, die dieses Buch vereint, ihre existentielle Tiefe.
Schlachtfeld
Das Bild Schlitten, 2010, zeigt einen schwarzgrünen Kinderschlitten, darüber zwei ebenfalls schwarzgrüne Baumstümpfe, die auch abgeschossene Beine sein könnten. Dazwischen, auf dem wogenden Weiss des aufgepeitschten Grundes, lodern rote Flecken wie Spuren, die ein stark Verwundeter auf frischem Schnee zurückgelassen hat. Ilisevic dachte jedoch nicht an Blut, als er das Bild malte, sondern an Blumen oder Frauenbrüste. Wie klumpig-flüssige Überreste auf einem Schlachtfeld sind diese Formen ins kalte Weiss eingesickert. Viele Bilder lassen sich entsprechend verstehen. Beispielsweise Grösse 68 von 2012, das zwei kopfüberstehende Stiefel zur Darstellung bringt, über denen eine grüne dreireihige Kette hängt. Oder Baumschlag, ebenfalls 2012: Ob auf einem Schneefeld liegend oder in einem Schneesturm stehend oder stürzend sind zu orten ein blaues Beil, vier Äste oder Bäume und eine rote Spur. Schneeschmelze und Herz aus Liebe, beide 2012, sind ebenso rätselhaft: Da werden auf dem ersten Bild die drei schwarzen Kohlenbügeleisen seiner Grossmütter auf Strohbetten und grünen Zweigen präsentiert, die wie lecke Rettungsboote im brühig schmutzigen Weiss des «Schneesturms» versinken. Ebenso enigmatisch ist Herz aus Liebe, wo grüne Zweige über zwei zerbrochenen Herzhälften auf blau kaltem Weiss ausgebreitet sind. Diese aufgepeitschte Malerei evoziert einen in der Vergangenheit liegenden Schrecken und macht ihn auch für Menschen erfahrbar, die nie persönlich damit in Berührung gekommen sind.
«Flussentlang»
In einer Reihe von Bildern, ist Ilisevic direkt von Eindrücken in seiner neuen Heimat inspiriert, wo er häufig am Fluss spazieren geht oder sich im Gummiboot bis nach Schaffhausen treiben lässt und vom Wasser aus die Uferböschung beobachten kann. «Flussentlang», diese poetische Wortschöpfung evoziert das Fliessen des Wassers, die Bewegung der Sträucher im Wind, zitternde Wolkenspiegelbilder, Fische im Schilf, tanzende Mücken und auch die Töne der Natur. Poetische Selbstvergessenheit, die Zeitlosigkeit eine Glücksmoments – dies ist der andere Pol in Ilisevics neuer Malerei. In den Bildern Flussentlang – Verlauf, Flussentlang – Brücke und Flussentlang – Spiegelung verliert das Weiss-Blau des Grundes seine Kälte. Es finden farbliche Verschiebungen in Richtung sanfter Morgenröte statt. Flüchtige Zartheit ist die Grundstimmung dieser Bildwelten.
«Blut & Honig»
Harald Szeemann zeigte 2003 eine Ausstellung über die junge Gegenwartskunst auf dem Balkan. Die widerstrebenden Kräfte, die in dieser Region seit Jahrhunderten aufeinanderprallen, hat er unter dem ungemein treffenden Titel «Blut & Honig» zusammengefasst. «Der Titel», so hat er in seiner Einleitung zum Katalog geschrieben, «evoziert die Pole von Zorn und Zärtlichkeit, Katastrophe und Idylle, von zutiefst Menschlichem und Universalem.» «Blut & Honig», «Axt & Herz» – das Balkanpendel fällt auch auf Velimir Ilisevics Bildern unweigerlich von einem Extrem ins andere, womit er ins Zentrum unserer heutigen Existenz trifft.
Matthias Frehner
]]>Worte sind nicht Worte. Die Worte schweigen. Die Worte sehen und wissen. Die Worte glauben niemandem. Die Worte leben in Verzweiflung, ohne Trost. Jedes Wort ist wichtig. Jedes Wort wächst wie ein Kind heran und lernt. Manche Worte lernen es, manche nicht. Worte sind nicht Worte. Die Worte schweigen. Die Worte überschreiten nicht die Grenzen der Worte. Die Worte sind unmöglich. Die Worte haben keine Stütze und halten uns dennoch fest in der Falle gefangen. Die Worte sind aus der Mode gekommen. Aber wir dürfen uns nicht täuschen. Ohne Worte gäbe es keine Zeit. Ohne Worte gäbe es keine Revolution. Ohne Worte ist es leicht. Die Worte schweigen. Worte sind nicht Worte. Das sind keine Worte.
]]>
Melinda Nadj Abonji & Sreten Ugričić, 22.5.2012 © Goran Potkonjak
]]>
Dass wir auch grilliert haben, unsere Familie mit der Familie Rüegger am Rumensee, vor etlichen Jahren. Aber der Rumensee ist kein See, das müssen Sie wissen, sonst stellen Sie sich etwas Falsches vor, ein Tümpel also, grünlich-braunes Wasser, natürlich mit Enten, Blässhühnern und Fröschen zu gegebener Jahreszeit, Schilf, Seerosen (und einmal ein richtiger Pelz, Pelz und Tümpel, das geht gar nicht zusammen, der Rumensee, ein Ort, wo alle paar Jahrzehnte eine Reiche sich und ihr Elend im Wasser ertränkte), wir, damals, in bester Laune, weil 1. August war, was mir und unserer Familie in erster Linie einen freien Tag haben bedeutete.
Herr und Frau Rüegger hatten Fähnchen mitgebracht, die man ins Brot stecken konnte, und die Cervelat Wurst, sie musste an beiden Enden mit einem exakten Kreuz beschnitten werden, das zeigte uns Herr Rüegger, der die Wurst, den Fendant, die Brötchen, das Plastikgeschirr von seinem Versicherungs-Beamten-Geld bezahlt hatte und mithilfe seiner Frau – die er Lulu nannte – hatten wir gelernt, was eine „Hausfrau“ war, Lulu also hatte eingekauft, eine Familienpackung Pommes Chips, je zwei Cervelats für die Männer, je einen für die Frauen und die Kinder; ausserdem hatte sie eine Schüssel Hörnli-Salat vorbereitet und mit Alu-Folie abgedeckt, und meine Mutter lobte die Cornichons im Salat, die Silberzwiebeln, das Säuerliche, das dem Ganzen einen erfrischenden Geschmack gibt, vermutlich, um davon abzulenken, dass sie nie und nimmer kalten Nudelsalat machen würde (dann lieber ein Stück Brot und sonst nichts); aber heute, am Nationalfeiertag waren wir eingeladen, es gab keinen Grund mürrisch zu sein, Vergleiche anzustellen, die nirgend wohin führten, wir Kinder tranken Rivella rot, die Erwachsenen Fendant, und so wie es die Männer zu tun pflegen, haben auch Herr Rüegger und mein Vater Feuer gemacht, sie legten das Holz, das wir Kinder gesammelt hatten, bedächtig und aufmerksam zueinander (wie mir das immer auf die Nerven ging, dieses Feuer Getue: nein, das ist nicht das richtige Holz! das lange Warten, bis das Feuer kein Feuer mehr war, sondern endlich Glut) und: jetzt endlich konnten wir die Würste grillieren, einen Holzstecken mit beschnittener Wurst über die Glut halten. Und was dann geschah, ist die eigentliche Geschichte zum ersten August: Wir sassen und assen hungrig die Würste, dazwischen einen Bissen Brot, mein Vater, der plötzlich zu kauen aufhörte, meine Mutter anschaute, mit vollem oder halb vollem Mund, und es war nicht leicht zu erraten, was geschehen war, weil mein Vater nicht reden konnte oder wollte; er hatte einen Zahn verschluckt, einen seiner beiden vorderen Goldzähne und vermutlich fühlte er, dass da etwas anderes als ein Bissen Brot oder Wurst die Kehle runterrutschte, vielleicht stellte er sich auch vor, wie er aussehen würde, mit einem Goldzahn und einer Lücke. Komisch sah er aus, die Rüeggers lachten, wir alle lachten, als Vater den Mund aufmachte, und es war etwas im Lachen der Erwachsenen, das nicht mehr ganz anständig war, Lulus Tränen verschmierten ihre Schminke, Heinz, also Herr Rüegger, klopfte meinem Vater brüllend auf die Schulter, und mein Vater sagte etwas über den 1. August, auf Ungarisch, das an dieser Stelle unübersetzbar bleiben muss.
]]>Aleja Viktora Bubnja 63, Travno, 41 000 Zagreb
May 2001
The place, actually, still exists: it was not blown up by a grenade, bomb, dynamite or any kind of explosives, God forbid, we are civilized people, that house, building actually, still lastingly exists in the world, there it is exactly where it has always been, today on the non-existing address: Viktor Bubanj alley 3, floor XIII, apartment number 136, 41000 Zagreb, the first of three entrances to the big building. Two regular elevators, one cargo, and one of those constantly out of order. Inside, one big and two smaller rooms, kitchen, balcony where the pigeons nest all the time, cubical loge ideal for urban barbarians to enclose it with windows. Mine was not enclosed, a good wind always blew through it, and it had a wonderful view of the entire blue-green and grey Zagreb, often darkened during that autumn and winter, immerged in darkness that was a fact and a metaphor at the same time and in that Sava river fog, palpable and more opaque than any peaceful fog that could descend anywhere anytime. Doorbell is in working order, intercom as well, and it is an old-timer, made by some-three-letter-abbreviation from Ljubljana, you know, the machine that has two big cubic buttons, one reads »door«, and the other »speech«. Telephone number, there’s a telephone as well, 677-477, like some rhymed, gentle, sometimes maybe bitter time traveling code, a kind of a secret number that could, when everything goes wrong, save the world, my world, from bursting, actually, from dissolving in a doubt of my own existence. Because, when there is nothing left out of something, sooner or later you’ll start wondering was there anything at all in the first place? And the devil awaits for that moment, you know and he knows that there was something, but your oblivion, your defeat, would mean that this world is closer by step, no matter how small and unimportant for the era, to His final reign, Kingdom of Darkness that maybe begins exactly at the point where a person forgets what made him the way he is.
So, the house is still in its place, I’ve passed by, quite recently, very close to it, it’s just that it is not my home anymore, and if it’s somebody else’s home I don’t know, and I guess I don’t want to know. To someone it is a flat, that is for sure, I even know whose flat, or at least I knew, but that doesn’t mean anything, I have something that is a flat to me, flats are replaceable, but there is only one home, so either it is there or not, just like you are there in it or you’re not.
And so the morning of December 30th in the year of our Lord 1991 came, father and I got up early, the long and strange road awaited us, we had coffee, listened to the radio, sat there quietly while the winter sun was arising somewhere above us. When the clock hit eight, I took the last look from the loge to that arsenic »green and blue Zagreb water«, took a deep breath, put my shoes on. We crawled out of the apartment carrying suitcases, I took a key out of the small pocket that some smart person conceived just for the purpose of holding a key in it, because it is too small or too big for everything else, I put the right key from the bundle in the lock and turned it twice, just like I did always before that time, like it is of any importance now, just as if the person that’s been taken to be executed on a winter day would be worried sick not to catch a cold on the way there. Well ok, I can say in my defense that I didn’t exactly know that this key of mine is in that exact lock for the last time, even though I had a feeling that it is going to be that way. But during that long autumn those fortunately unsuccessful »last times« have already happened, so this one could be the same, but it just happened that it wasn’t, it was really the last time, forever and Amen, and nevermore will the key from my hand be there in that lock, not even if the dead wake up, and the Kingdom of Heaven is proclaimed, because even if you believe that people resurrect, still it doesn’t apply to keys, and especially not to all the things that those keys could unlock, which are not there, thus a key as such, a key that outlasted its lock, is just one self-sufficient object, one watchword without challenge, an answer without a riddle.
Way before nine we were at the bus station that was filled with soldiers and grannies, grannies and more soldiers, and finally got on board a bus that went to Sarajevo, even though we did not travel to Sarajevo but to the nearest available village in, at the time, still peaceful Bosnia, and that was Bosanski Šamac, where we had to switch to another bus that went here, straight to the city under the Fortress, that looked like somebody’s big loge from which you could see the whole town, with its green and blue Danube waters. And the trip lasted long and even longer, you cannot believe how long a trip in the war can last, because the war is a spoiled and needy child, he desires a lot of free space and won’t stand the competition, thus we couldn’t travel directly, using a highway, instead we endlessly drove around through Podravina crowded with villages and small towns, then tiptoed through western and eastern Slavonia, carefully taking care not to disturb the war, or make him feel uncomfortable. And he would make a throbbing noise here and there, left and right from where we were, from Slatina and Pakrac, from Osijek and Vinkovci. And many hours later we reached the border that it wasn’t a border until just recently, they set up a container with Croatian coat of arms clearly stating that we have entered a limbo, less between Croatia and Bosnia and more between war and peace, and now we have to listen to the verdict, are we going to be granted a grace of a free crossing into maybe not anymore, but perhaps lighter phase of humanity, the one that awaits you in the place where there are no shootings, which is – and you’ll irrevocably realize this immediately, if you didn’t get it before – criterion above all criterions for a good human living. But the Devil is never asleep, especially not in the time of war, and my freshly issued Belgrade ID wasn’t actually a recommendation within the geography of war, nor it was my father’s recent military carrier, and so it took us off the bus, waived to the driver to drive on without us, and the ones that stayed in the bus probably were relieved that they are not among the Taken-off, and the two of us were left there standing on the December turf, surrounded with kindly reserved and only implicitly ice-cold threatening camouflaged uniform lads, who for a long and longer time performed a game of identifying and recognizing, and then called their superiors, then Slavonski Brod, then Zagreb, to see what kind of fish got caught up in their net, are they dangerous, edible, are they maybe suitable for some kind of exchange of two-legged war goods, or whatever. Several meters away there was a bit ugly, metal construction of a bridge over Sava river, between one Šamac and another Šamac, between the two sorry countries, between the war on the left bank that was slowly dying and the peace on the right bank that was dying as well, but perhaps it didn’t know that about itself, yet. That bridge was actually some kind of a key between the two worlds, and I was staring at it, as if it was an entrance to the cave with hidden treasure, with a growing fear that I will forever stay on this side, that I will be separated from my dad, that they might torture him, who knows why, like the war and its people need a real reason to torture someone? And this lasted you’ll never know for how long, my overcoat – I remembered it too late – was far on its way to Sarajevo, and we were standing in the middle of some Panonian Absurdistan like two naked, helpless idiots, waiting for the Destiny to do what pleases her. In the end, she was compassionate, someone somewhere told somebody that we’re kosher, that all this can be continued without the two of us, and we’ve crossed to the other side, to the lights of the dark vilayet, and sat down to ate the sweetest chevapchichi that anyone has ever grilled, like the ones that eat people who were reborn, people light as air that they lustfully breathe, and even lighter, they could almost fly.
And after that we stood in the dark by the road and waited, and waited, until a vehicle with Novi Sad license plates rolled in on a road covered with rubble, swallowed us and almost without stopping drove us for a long and even longer time through Orašje, Brčko, Bijeljina, Mitrovica, Ruma, then descended from Iriški Venac until we saw the lights of Novi Sad from the panorama of Kamenica, then down the boulevard that splits it in half reached the station, and on the station soldiers and grannies, and grannies and more soldiers, but who cares, father and I rang the door of my aunt’s place, his sister, here, on a boulevard, that back then was bearing a name after October 23rd, the day when someone freed somebody from war, on one of important boulevards in my life, and then we talked for a long time, and then went to sleep, and I was for a long time laying in the dark diluted by the street lights and headlights, starring at the ceiling, feeling that this was my first real night out of home, first in seemingly endless stream that will follow soon. Although the apartment we stayed in, like everything and everyone in it, was very familiar and dear, just like the city above which this apartment floats, this was something else, yes, that town is mine, but home is not, home remained somewhere on the That side, and it will never come back from there, not even when the Sides again become just ordinary sides of the world.
And „what happened later“? Nothing happened. Later happened the rest of my life, in the beginning spent very modestly breathing. The key I used to lock the door of my Home, which I had turned twice out of caution was still in my pocket, that metal thing made in such way that it can unlock only one door in the world, the Right one, even though that lock for me and for him did not exist, like it had gone to Heaven, or somewhere where there is no key or its owner. And I cannot remember, shame on me, what exactly had happened with it, for how long it stayed in that pocket until I degraded it by moving it to some less prominent pocket, which made him the Key in Retirement, but always ready to get back to work again, if needed. But it didn’t because it was not possible, and so that moment came – a year later? two? maybe three? – when I, changing trousers and its inventory, left the key on some table, who knows which and where, and so the key irreversibly ended his sole purpose on Earth. It was, of course, my surrendering, admitting a defeat, like if I had raised both hands and said: ok, I will never sleep at home again, I know that, and why pretending it is different? The key belongs to the winner, and the winner of these kind of fights is not the man, not a single one and never, but it is The One that mocks the man because of his vulnerability and weakness, the only human capital. And this is where this story ends, with the moral, at least pro forma: it is not terrifying to lose a key; it is terrifying to lose a lock for it.
]]>Ich erinnere mich noch heute lebhaft an die gelegentlichen Hakenkreuze in diesen Filmen, die erhitzten Gesichter, die geballten Fäuste und an das, was darauf folgte: der Siegestaumel. Die Partisanen errangen einen Sieg nach dem anderen, und wie alle anderen beendete auch ich meinen Hausaufsatz mit dem selbstbewußten Satz, das Gute habe über das Böse gesiegt.
Ratlos betrachtete ich die fassungslose Miene meines Vaters. Ich wußte nicht, was seine Erregung zu bedeuten hatte, denn in meinem kindlichen Verstand lebte die Überzeugung, daß die Partisanen sowieso immer gewannen. Er beruhigte sich erst dann wieder, als er erfuhr, daß auf dem Platz die Dreharbeiten zu einem Partisanenfilm vorbereitet wurden. Das Ereignis hatte in ihm wohl die Erinnerung an sein Anders-Sein geweckt, an die weiße Armbinde, die er 1944 hatte tragen müssen. Die auf dem realen Platz einer realen Stadt spielende Filmszene hatte ihn mit der ganzen Kraft der Wirklichkeit getroffen; für mich hingegen gab es nur den Film in der Wirklichkeit, den Film, in dem das Gute zwangsläufig über das Böse siegen würde.
Über einen kleinen Umweg erreichten wir schliesslich das alte Gebäude, in dem sich das während der österreichisch-ungarischen Monarchie erbaute Gymnasium befand. Mein Vater war mit mir nach Újvidék geradelt, um an den Feiern zum Beginn des Schuljahres teilzunehmen und sich die Begrüßungsansprachen anzuhören. Bei meiner Anmeldung im Frühjahr hatte es auf der Namenstafel an der Eingangspforte noch geheißen Pál Papp Ungarischsprachiges Gymnasium; zum Unterrichtsbeginn im Herbst hatte man die Tafel jedoch durch eine neue mit der Aufschrift Moše Pijade Gemischtsprachiges Gymnasium ausgetauscht. Wir verhielten uns beide so, als wäre nichts weiter geschehen, und genauso verhielten sich auch die anderen anwesenden Eltern, meine zukünftigen Klassenkameraden und meine Lehrer.
Warum hätte man die Sache auch zur Sprache bringen sollen? Pál Papp war ein Kommunist und Antifaschist, der nach dem Einmarsch Miklós Horthys und der ungarischen Armee von den ungarischen Behörden hingerichtet worden war, während der jugoslawische Antifaschist Moše Pijade als führende Persönlichkeit der kommunistischen Nomenklatur galt. Beide waren Kommunisten und Antifaschisten – wie meine ganze Umgebung. Bei den zahlreichen Feierlichkeiten sangen wir eifrig das Lied, daß in Amerika und England bald das Proletariat regieren und die Wahrheit siegen würde.
Wir waren alle Kommunisten, selbst die, die nicht über ein Parteibuch verfügten. Das war nicht bloße Politik, sondern authentisches Lebensgefühl. Die Welt war wie ein Film, in dem sich die Guten und die Bösen gegenüberstanden, und alles, was anders war, verdächtig war. Der Schatten der Stigmatisierung fiel auf jede Form von Anders-Sein.
(…)
Nahezu vier Jahrzehnte später, zu Beginn der neunziger Jahre, verwandelte sich die überwiegende Mehrheit der einst so begeisterten Titoisten in militante Anti-Titoisten. Moše Pijades Namenstafel wurde von der Wand des Gymnasiums entfernt – wegen seiner Serbenfeindlichkeit, wie die kämpferischen Antititoisten erklärten. Demnach war er – und somit auch Tito – nicht würdig, daß ein Gymnasium seinen Namen trug. Moše Pijade sei außerdem Jude gewesen, winkten sie ab. Aber nicht dass jemand dächte, sie seien Antisemiten, nein, bloss keine Missverständnisse aufkommen lassen!, rechtfertigten sie sich vorsichtshalber. (Man muss wissen: Dieselben Serben legten 1992 im Namen des Patriotismus das kroatische Vukovar in Schutt und Asche). Aber auch Pál Papp hätte kein besseres Schicksal erwartet: Auch er sei Kommunist gewesen, hiess es, was soviel bedeutete wie Jude. Auch er sei unwürdig, Namenspatron eines Gymnasiums in Újvidék zu sein, behaupteten die einst kommunistischen Ungarn, die von einem Tag auf den anderen Horthy zu verherrlichen begannen.
(…)
In unserer neueren Geschichte empfiehlt es sich, dem Anderen in der ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Welt mit Toleranz zu begegnen. Das Fremde sei schön, wird behauptet, aber nur solange es fern, also unbekannt ist. Dieses Unbekannte ist zwar nicht mehr so exotisch wie noch im 19. Jahrhundert, aber wir tun so, als wäre es exotisch. Wir sind dazu verurteilt, täglich übereinander zu stolpern.
Um dem Durcheinander ein Ende zu setzen, ist das geistige, kulturelle und politische Leben organisiert wie ein multinationaler Konzern, in dem alles miteinander verknüpft ist. Denn obwohl es sich ziemt, die Globalisierung abzulehnen, gilt es, ihre Regeln einzuhalten. Auf internationalen Literatursymposien würdigt das eine andere das andere andere, obwohl sie einander immer ähnlicher werden. Die gleichen Speisen, die gleiche Mode, die gleichen Technologien, die gleichen Literaturströmungen, der gleiche Diskursjargon. Der Dialog über das andere dient dem Zweck, Distanz zum anderen zu halten; es geht darum, die Repräsentanten der nationalstaatlichen Zentren, das authentische andere, zu würdigen, und bei dieser Zeremonie entsteht dann die „bunte Einfarbigkeit“ – denn schließlich wird das andere durch die repräsentativen Vertreter der Nationalstaaten symbolisiert, das heisst, es existiert nur eine einzige authentische Form kultureller Narration: die nationalstaatliche. Und damit schließt sich der vermeintlich kosmopolitische, europäische Kreis.
László Végel: Vertraute Fremde. In: Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Herausgegeben von Richard Swartz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007.
]]>
Die Lesung mit Ivana Simic Bodrožić ist aus familiären Gründen abgesagt.
Statt Ivana Bodrožić und Rayelle Niemann lesen und diskutieren der Autor László Végel und der Literaturkritiker Teofil Pančić. Beide leben und arbeiten in Novi Sad.
*** Eine einmalige Gelegenheit, zwei inspirierende Intellektuelle der Vojvodina kennenzulernen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen ***
Im Mittelpunkt des Abends steht der Text „Vertraute Fremde“ von Végel, den er für eine Anthologie verfasst hat und in dem er zwischen dem ungefährlichen, weil fernen Anderen und dem bedrohlichen Anders-Sein des „vertrauten Fremden“ unterscheidet: „Das andere und das Anders-Sein sind beileibe nicht ein und dasselbe: Über das andere kann man sich eine klare Meinung bilden, man weiss genau, ob es sich um einen Feind oder einen Freund handelt. Man weiss, mit wem man es zu tun hat. Das Anders-Sein hingegen ist rätselhaft und geheimnisvoll: Es flösst Angst ein, man macht sich schnell verdächtig, denn – um mit Rimbaud zu sprechen – man ist stets ein anderer, nie der, für den man sich ausgibt.“
László Végel, geboren 1941, schreibt Romane, Essays und Theaterstücke. Als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Serbien ist er neben Danilo Kiš und Ottó Tolnai einer der großen Autoren der Vojvodina. Seinen ersten Roman veröffentlichte Végel 1967. Die „Memoiren eines Zuhälters“ waren, so Peter Esterházy, „ein Meilenstein für die moderne ungarische Literatur“.
Teofil Pančić, Jahrgang 1965, ist ein serbischer Literaturkritiker und Leitartikler. Er arbeitet für die belgrader Wochenzeitung „Vreme“. 2010 erhielt er den „Dusan Bogavac Preis“ für Mut und Ethik im Journalismus. Im gleichen Jahr wurde er aufgrund seiner entschieden anti-nationalistischen Positionen überfallen.
Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:
THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch
INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch
]]>
Zug ist stolz auf sein offizielles Zertifikat für den schönsten Sonnenuntergang Europas. Trotzdem, schauen wir genauer hin. Der Kanton Zug hat den niedrigsten Steuerfuss der Schweiz, das wissen alle. Wie die hiesige Verfassung beginnt, wissen hingegen nur wenige.
Über diese Kluft denke ich nach, während ich über Zug gleite: den unfassbaren Zusammenhang zwischen dem Allmächtigen, der in den Himmeln über allem thront und dem niedrigsten Steuersatz, der unten auf der Erde alles vergoldet. Wegen dieser Kluft leben und bezahlen hier, im Städtchen mit 20‘000 Einwohnern, Angehörige von über 180 Nationalitäten aus aller Welt die tiefsten Steuern der Schweiz. Wo sonst gibt es eine so kleine Stadt mit einer so grossen Anzahl von Maseratis, Ferraris, Bentleys, Porsches, Lexus‘, Aston Martins, Lamborghinis….. Und nun lebe auch ich seit über drei Monaten in Zug. Ich spaziere, schwimme, träume, schwebe, schaue um mich, berühre, höre, aber ich kann es nicht glauben.
Für mich ist der Kanton Zug der exotischste Ort der Welt. Die Exotik von Dschibuti, Myanmar, Sumatra, des Feuerlands, der mongolischen Steppen, der Bahamas, von Tasmanien, Gabun, Togo – all das ist interessant und ungewöhnlich, vielleicht auch mystisch, kommt aber dem Unwirklichen und Unmöglichen, das der Alltag in Zug verkörpert, nicht einmal ansatzweise nahe. Ich bewundere die Art und Weise, wie hier alles funktioniert, bewundere den Anstand und die Rationalität, die Präzision, die Zuverlässigkeit und Unaufdringlichkeit – mit einem Wort, die Perfektion. Für jemanden wie mich, der herkommt, wo er herkommt, und der weder weiss, was er soll, noch wohin er soll – für jemanden wie mich ist diese Perfektion unwirklich, unbegreiflich.
Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist das möglich? Dass alles rational, funktional ist, dass alles seinen Grund hat, alles abgemessen, alles erneuert und herausgeputzt, alles glatt und ordentlich ist, dass alles angemessen, alles korrekt ist, dass alles sicher, beruhigend, vorhersehbar, nützlich, bequem ist, dass alles intelligent, dass alles das Beste seiner Art und natürlich das Teuerste der Welt ist.
Alles glänzt in Zug und alles ist pünktlich und alles ist voller Respekt und alles ist zum Greifen nahe. Alles ist da, ausser Minarette. Jeder Kirchturm, jeder Grashalm scheint an seinem Platz zu sein, und jede Kirsche scheint saftig und jede Treppenstufe scheint ganz und jedes Hindernis scheint überwunden und jedes Missverständnis scheint im Voraus ausgeräumt zu sein …. Die Vollkommenheit und die Beständigkeit der Wirklichkeit gewordenen Utopie.
Grosses Geld, ein niedriger Steuerfuss. Eine grosse Illusion, eine kleine Chance, egal, für welche Veränderung. Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist Zug möglich? Weil die Schweiz möglich ist. Wie ist die Schweiz möglich? Weil unter anderem das Bankgeheimnis möglich ist. Aber über Zug schweben ist nicht die günstigste Position, um darüber nachzudenken, was das verfassungsmässig garantierte Bankgeheimnis versteckt. Wenn er Gott herausfordert, hat ein Paraglider minimale Chancen. Die Schweiz ist möglich, weil die gesamte Geschichte Europas möglich ist. Das, was die Schweiz für den Rest Westeuropas ist, ist Zug für den Rest der Schweiz. Ist mehr möglich als das? Kaum. Heisst das dann, dass wer in Zug lebt, in der besten aller Welten lebt?
Mit mir im Schwarm schweben junge Männer und Frauen. Ich komme auf den Gedanken, dass sich die Jungen hier gegen nichts auflehnen müssen. Gibt es eine Gesellschaft oder ein System, das besser ist als dieses hier, und in dem es sich mehr lohnen würde zu leben? Für Junge in der Schweiz ist das unvorstellbar. Und erst recht für die Jungen in Zug! Durch diese Vollkommenheit ist ihre politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Vorstellungskraft amputiert … Eine Jugend, die sich keine Gesellschaft oder Kultur vorstellen kann, die ihnen besser entspricht, als diese, in der sie aufwächst, mit dieser Jugend kann doch etwas nicht stimmen.
Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie kann man jung sein und nicht gegen etwas sein? Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen? Wie kann man jung sein und sich nicht die Freiheit vorstellen können? Wie kann man frei sein, wenn man sich nicht eine Welt vorstellen kann, in der es uns besser ginge als in der Welt, die uns als Aufgabe gestellt ist? Ist die verwirklichte Utopie gleichzeitig eine verwirklichte perfekte Anti-Utopie?
]]>
Ivana Simić Bodrožić: Hotel Nirgendwo. Wien 2012.
]]>Die zwischen Kairo und Zürich lebende Kuratorin Rayelle Niemann empfängt die junge kroatische Autorin Ivana Simić Bodrožić. Diese liest aus ihrem Debutroman „Hotel Nirgendwo“, der Geschichte einer Jugend inmitten der Lügen des Jugoslawienkrieges, zwischen Vertreibung und Nirvana-Kassetten.
Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:
THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch
INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch
Ivana Simić Bodrožić: Hotel Nirgendwo. Wien 2012.
]]>Eines meiner Häuser, das ich kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz im Kindergarten gezeichnet habe.
]]>Vor Marikana
In kwaZulu-Natal rasen wir stundenlang neben Eukalyptusplantagen her:
Abertausend gleissend-weisse Stämme entziehen dem Land das Wasser
Genetically modified sagt meine Schwester und entlang der Strasse
die Schienen für das Holz für das Papier für einen Text wie diesen
Der Geruch von Inhalationen von Dampf dringt ins Auto
Fieberfrost einer erinnerten Grippe und auf dem Pannenstreifen:
Schwarze Kinder kommen in ihren Uniformen aus der Schule
At least two bodies haben sie und ihr Mann hier liegen sehen
Hinter der letzten Plantage dann die erste von vielen Minen
Diamanten vielleicht oder Kupfer für unsere Armreifen in Solidarität
mit Menschen mit HIV mit AIDS und vom Rücksitz ihre Stimme:
Darling turn the aircon off
Nach Marikana
Ein Journalist beschwört Dornbüsche, verdorrtes Gras und beinahe biblisch
taucht die sinkende Sonne den Hill of Horrors in warmes Licht im Flugzeug
in der ersten Zeitung seit Tagen lässt er sich von Alliterationen verführen
von Schmelze, Schlachtfeld und Schwarze schiessen auf Schwarze
Im Flugzeug in der ersten Zeitung nordwestlich von Johannesburg
stolpere ich über Begriffe keine Bilder stellen sich ein zu Platin zu 80 Prozent
des Weltvorkommens das unter uns liegt unter der Wolkendecke unter Tag
keine Bilder zu Lohnforderungen, D-Day und 34 Kumpel
Von Apartheid ist die Rede von automatischen Gewehren und im Flugzeug kommt
nach der ersten Nennung des African National Congress das Kürzel in eine Klammer
wie man es gelernt in der weissen Welt die nichts mehr versteht schon gar nicht
Z wie Zuma während ein Streikender im Aufmacherbild so nennen wir das
Ein Streikender leckt die Spitze seines Speeres ab
Salt Rock/Zürich, 2012
]]>
Im Juli 2012 hat Radio DRS zwanzig Beiträge zum Thema „Ideen für die Schweiz“ gesendet. Sreten Ugričić und Melinda Nadj Abonji haben in ihrem Beitrag die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung modifiziert.
Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung – Original
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung:…
Modifizierte Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung
Im Namen der Vorstellungskraft und der Wirklichkeit!
Alle, die in der Schweiz leben, alle Kantone und Spezialitäten, Kuchen und Würste, alle Berge, Bahnen, Banken, Bäder, alle Kinder, Higgs-Bosonen, Naturwunder, Frauen und Männer, alle Fabriken, Büros, Dächer und Häuser, Haustiere und Tiere, insbesondere alle Vögel,
in der Verantwortung gegenüber allem, was existiert – was um uns und in uns und in unserer Vorstellungskraft existiert –
im Bestreben, Frieden, Freiheit und Demokratie zu stärken, die Unabhängigkeit und den Nationalismus zu schwächen, um solidarisch und offen gegenüber der Welt zu handeln, im Bewusstsein, dass wir alle winzige Sterne im Universum sind,
im lebendigen Bemühen, Ähnlichkeit und Verwandtschaft untereinander wahrzunehmen, um so Verständnis und Vertrauen zu ermöglichen, um Hierarchien zu vermeiden,
im Eingeständnis, dass die gegenwärtige Gemeinschaft, so, wie sie ist, Anteilnahme und Hinwendung erfordert, im Bewusstsein der Verantwortung also gegenüber Kindern und Kirschen, Piloten und Nonnen, Büchern, schwarzen Löchern, Orbits, Sprüngen und Gedanken,
gewiss, dass nur frei ist, wer seine oder ihre Freiheit in Anspruch nimmt, die Stärkeren sich beispielsweise um das Wohl der Schwächeren kümmern, um die Kranken und Verletzten, Hungernden, Hilfe suchenden, um die Pusteblumen, Spinnweben, um Staub und Wolken, insbesondere um die Papierlosen,
geben sich folgende Verfassung:…
Nachsatz
Die vorliegende modifizierte Präambel ist in keiner offiziellen Sprache der Schweizerischen Konföderation geschrieben und verfolgt nur ein utopisches Ziel. Demzufolge besitzt sie vollumfängliche gesetzliche Gewalt.
]]>Mit dem, was nimmer aufhört.
Wer aufgehört.
Zsófia Balla: Schönes, trauriges Land. Gedichte. Ausgewählt und aus dem Ungarischen übertragen von Hans-Henning Paetzke. Berlin, Suhrkamp 1998.
]]>Stete Verwandlung – Zur Malerei von Velimir Ilišević |
Text aus dem Katalog „Zeichen zeigen“ – Dr. Kathleen Bühler
Rückkehr der Figuration Die Figuration ist im neuen Jahrtausend mit grosser Wucht in die Malerei zurückgekehrt. Bereits wurde der unübersehbaren Tendenz in der Gruppenausstellung «Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart» (2006) Respekt gezollt, aber gleichzeitig die Frage aufgeworfen, was figürliche Malerei heute leisten kann und wie sie sich als vormaliger Gegenpol zur Abstraktion positioniert. Denn die Frage, ob man dem abstrakten oder dem figürlichen Lager angehört, wird heute in der Malerei längst nicht mehr mit der gleichen Dringlichkeit gestellt wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern durch eine freimütige Vorgehensweise ersetzt, die beides mit Selbstverständlichkeit kombiniert. Die Autoren orten im Katalog der erwähnten Überblicksausstellung unterschiedliche Strategien hinter dem erneuten Aufkommen des Figürlichen und seinen verschiedenen Mischformen. So entspringe realistische figürliche Malerei dem Bedürfnis, mit dem gemalten – im Unterschied zum fotografierten – Bild grössere sinnliche Präsenz zu erzielen, um so dem Dargestellten eine überzeugende Wirklichkeit zu verleihen und das Abbild wieder zu einem Gegenstand werden zu lassen. Und nicht zuletzt diene die langsamere Vorgehensweise beim Malen dazu, die eigene Lebenswirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit klarer zu erkennen und mit grösserer Subtilität ins Bild zu übertragen. Auf ähnliche Weise könnte man die Malerei des in Kroatien geborenen und in Bosnien-Herzegowina aufgewachsenen Schweizer Künstlers Velimir Ilišević charakterisieren: Eine Malerei, die mit gleicher gestischer Vehemenz ihre Motive aus dem üppigen Ölgrund herausschält und die sich genauso wenig um realistische Proportionen, Darstellungslogik oder Perspektive schert, wie jene von Georg Baselitz. Wie bei Baselitz kann die Wahl der Motive autobiografische Beweggründe haben, jedoch nicht nur. Von der Erinnerung zur malerischen Reflexion Die möglicherweise schmerzliche Erinnerung, beispielsweise hinter einem Bildmotiv wie dem blutroten Kinderschlitten auf weiss verschneitem Grund [Abb. 1] – zumal vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte des ehemaligen Jugoslawien, wo der Künstler aufgewachsen ist –, löst sich über mehrere Bilder hinweg auf in eine mittels Malerei geführte Reflexion über die zeichnerische rote Struktur vor weissem Grund. Am autobiografisch aufgeladenen oder zuweilen auch belasteten Motiv entzündet sich ein Denkprozess, welcher zu einer in Malerei geführten Reflexion über das Malen mündet. Schön verfolgen lässt sich dies am Motiv des Fisches, das 2002 im grossformatigen Gemälde Ziehbrunnen I S.R.231 Wasser Vaterbild (Ölfarbe auf Leinwand, zweiteilig, 150 x 300 cm) auftaucht. [Abb. 2] Die autobiografische Bedeutung wird bereits im Titel deklariert und zeigt sich an den Bildgegenständen: Der Fischschwarm, der wie der dunkle Ziehbrunnen und rundliche, organische Büschel vor einer rosaroten Gitterstruktur vor hellgrünen Grund schweben, verweist auf des Vaters liebste Beschäftigung. Tod und Leben Als Todesmotiv kehrt der Fisch ein Jahr später im Gemälde Baum Toter Fisch (2003, Öl auf Pressplatte, 110 x 110 cm) wieder. [Abb. 3] Diesmal schwimmt ein einzelner Fisch mit dem Bauch nach oben vor einem angedeuteten Baumstamm, aus dem einzelne grüne Blätter spriessen. Die netzartige Gitterstruktur hat sich in einen vielfältig geschichteten monochromen Hintergrund verflüchtigt. Zur motivischen kommt die farbliche Verknappung zu Rosa, Grün und Schwarzblau hinzu. Die surreale Begegnung zwischen Fisch und Baum ist inhaltlich schwer zu erklären; sie muss aus der steten Verwandlung der Gegenstände in andere Motive abgeleitet werden. Mit seiner süsslichen Fleischfarbigkeit erlaubt das Gemälde die Umdeutung des Baumstamms zum menschlichen Leib. Dies ist deshalb nicht abwegig, weil Ilisevic ein Jahr später das Thema nochmals aufgreift und in Schwarzer Fisch (2004, Öl auf Leinwand, 33 x 33 cm) einen schwarzen Fisch grün umkränzt und darüber zwei rosa-grüne Kugeln setzt. [Abb. 4] Auch hier lässt sich das Bild nur dank dem Hinweis im Titel verstehen, denn stärker noch als an ein Arrangement mit Fisch erinnert es an ein grotesk geschminktes Gesicht mit schwarzem Mund oder an einen weiblichen Körper mit runden rosa Brüsten und einem fischartigen Geschlecht. Die Verbindung zwischen Fisch und Vulva wird ja nicht zuletzt durch sprachliche Metaphern nahe gelegt. Aus der Assoziation zum männlichen Tätigkeitsbereich des Vaters löst sich das Bildmotiv Fisch langsam und wandelt sich zu einem Symbol, das zunehmend mit weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden kann. Sehnsucht und Struktur Die Sehnsucht kann Antrieb zu solchen Bildfindungen sein und lässt sich in Neuer Fisch in vieler Hinsicht denken: Sehnsucht nach nicht versiegender körperlicher oder geistiger Nahrung, Sehnsucht nach sinnlicher Ganzheit, nach kreatürlicher Einfachheit, eingebunden in einen unversehrten und paradiesisch fruchtbaren Lebensraum. Weitere Impulse zur Bildgenese gibt die assoziative Denkweise des Künstlers, die sich unbekümmert – da Deutsch nicht seine Muttersprache ist – an sprachlichen Ungereimtheiten und Vieldeutigkeiten entzündet. So etwa in der jüngsten Serie von Zeichnungen, den Brüstungen (2008, Tusche und Ölpastell auf Papier, unterschiedliche Formate). [Abb. 6-9] Darin kehrt die weibliche Brust wieder, welche nun zu ganzen Trauben, ja Batterien von Brüsten, die zum Teil an Ästen hängen, gebündelt wird. Die charakteristischen spitz zulaufenden Rundformen bilden unregelmässige Ballustraden, die als Rapport über den weissen oder schwarzen Grund führen. Sie erinnern an die vielbrüstige antike Göttin Artemis von Ephesos, welcher als Attribut der Fruchtbarkeit Schweinsblasen umgehängt wurden. Der Künstler verwirklicht sich augenzwinkernd einen kindlichen oder kreatürlichen – denn es kommen vereinzelt auch wieder Fische vor – Wunschtraum. Gleichzeitig kehrt er zur Ausgangslage des ersten Gemäldes zurück, zumal die Brustform auch wieder als Gitterstruktur lesbar ist, welche sich über das Bildfeld legt. Das emotional besetzte Motiv wird durch die Art des Striches mit der Gesamttextur verwoben, womit seine formale Funktion ein knappes Gegengewicht zur überwältigenden Bedeutung des weiblichen Geschlechtsattributes bildet. Zentrale Aussage dieser Motivverwandlung bleibt jedoch die inhaltliche Abkehr vom vormaligen Todesmotiv, dem Fisch, hin zum Fruchtbarkeitssymbole, mit dem eine überzeugte Lebensbejahung einhergeht. |
Äste, Gestrüpp plagen dich,
schnaufst bäuchlings über die Saiten,
schwörst bei Zähre und Gewissen
Wer die Heimat wechselt, sollte sein Herz wechseln. Immer mehr begreife ich die Wahrheit des Dichters, wenn ich nun eine Antwort auf die Frage suche, was es bedeutet, zwischen zwei Städten, zwischen zwei Heimatländern zu pendeln.
Der Ort, von dem der Schwung meines Pendels seinen Ausgang nahm, besitzt drei Bezeichnungen: Kolozsvár, Cluj, Klausenburg. Die einst wohlhabende und heute lediglich auf ein bewegtes Schicksal zurückblickende Stadt ist reich vor allem an Geistigem, an Geschichte und Namen. Der Landesteil, dessen Zentrum Klausenburg ist, trägt ebenfalls mehrere Benennungen: Erdély, Transsylvanien, Ardeal, Siebenbürgen.[1] Für mich war es ein gepolstertes Nest, das mit verschiedenen Kulturen, Traditionen und Glaubenskonfessionen ausgestattet war, sowie eine aus Beton gegossene monolithische, sozialistische Zelle mit einem gemeinsamen Schicksal.
Der Ort, an dem ich mich niederzulassen versuchte und wo ich gegenwärtig die meiste Zeit verbringe, heißt Budapest. Ein schöner, verschlossener Mann mittleren Alters. Ein bißchen enerviert, er sieht, daß seine Schläfen allmählich grau werden. Klug, gebildet, ein wenig verlottert und militant. Er stößt mich nicht von sich, aber umarmt mich auch nicht. Alles, so sagt er, liege an mir. Leicht ist das nicht, bin doch auch ich nicht mehr verführerisch jung. Ich bewohne die Metropole, sauge sie in mich auf, hofiere und liebe, schreibe über sie. Manchmal raffe ich mich auf und fahre nach Hause, eine in Budapest lebende Klausenburgerin, für einige Wochen, einige Monate. Und dann zurück. Wie das Pendel einer Uhr. Jemand schlägt, zerstört sich innerlich, zeigt ihm seinen Platz und auch die Zeit.
Den Weggang von zu Hause empfinde ich als Todessprung, so im nachhinein und noch in der Luft; darauf vertrauend, daß ich das Sicherheitsnetz nicht verfehlen oder das andere Ufer erreichen werde. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn jemand derart halsstarrig wie ich ein Klausenburger Lokalpatriot ist.
Der Ort, so sagt man, macht mich zu der, die ich bin. Die Klausenburger Sprache, die einer Minderheit, ist ein anderes Ungarisch als das des Mutterlandes, es entwickelt sich anders, hat andere Schwerpunkte. Es artikuliert sich darin auch eine Antihaltung. Jahrzehntelang dachte ich, aus dem Stoff zusammengesetzt zu sein, der da Klausenburg heißt. Diese Stadt sei es, die mein Denken und Schreiben ausmache. Zwar meinten einige, Platz gebe es für mich auch anderswo, und sie behaupteten sogar, dort gehörte ich hin. Dessenungeachtet war ich der Überzeugung, die Dinge seien dort nicht auf den Punkt zu bringen. Die Grundlagen meines Denkens und Wertesystems seien in den Türmen, meinen Freunden und Lehrern zu suchen, in dem, was uns hier widerfahre, in meinen Liebesbeziehungen, den Wäldern, unseren Wohnungen und Möbeln, in meinen Tonbandaufzeichnungen und den Bildern. Und nun, da ich Klausenburg eigentlich verlassen habe, werde ich mich verlieren? Verlieren? Oder? Dies ist für mich jetzt die ausschlaggebende Frage.
Wird sich in Budapest meine Sprechweise, meine Sprache verändern? Die Art meines Denkens?
Wenn ihr dereinst in der neuen Welt
……………………………………..
wo einige Telefonnummern kreisen werden,
selbst-vergessen.
Ich glaubte, eine phantastische Sache für mich erfunden zu haben. Zwei Schauplätze. Und ich sowohl hier als auch dort. Ich dachte, nach dem Ende der Diktatur müßte ich nicht alle Zelte abbrechen und auswandern, um auch in Budapest sein zu können. Es gibt Blumen, deren Wurzeln sowohl in der Erde wie auch in der Luft wachsen. Klausenburg sei die erhaltende Erde und Budapest die belebende Luft. Die Frage der Redaktion nach diesem Doppelleben kam einem Stich ins Wespennest gleich. Darüber zu sprechen, fällt mir ungewohnt schwer.
Dieses Thema, so beobachte ich, ist stets ungenießbar aktuell, schmerzlich, quälend, eine offene Wunde, in welcher Form auch immer darüber gesprochen wird. Zweifellos stecke ich voller Schuldkomplexe. Wer letztendlich weggeht oder weggehen will, sucht für seine Entscheidung nach Argumenten und Selbstrechtfertigung. Wer bleibt, sucht nach einer Bestätigung für seine Position. Vielleicht würde er selbst ebenfalls zu einer Veränderung neigen, statt dessen reagiert er vehement und aggressiv gegenüber den Weggehenden seine Trauer angesichts eines als kümmerlich empfundenen Lebens ab. Daheim hat es den Anschein, als wären die Menschen stolz darauf, Mißerfolge zu haben und ausgeplündert zu werden. Und wenn es ihnen schon nicht möglich ist, als unbesorgte Bürger zu existieren, dann werden sie eben Propheten. Das Prophetendasein aber ist eine Einbahnstraße, aus der kein Weg zurück führt.
Der Königspaß in den Westkarpaten ist der Ort, an dem ich das Gefühl habe, zu Hause angekommen zu sein. Langgestreckte Täler, Wälder, Heuschober. Wie eine Umarmung. Es schmerzt, es schmerzt. Ärmlich die Dörfer wie immer und unbeleuchtet, neu nur die Cola-Reklame. Und die Stadt: dunkel und vertraut. Eifersüchtig nehme ich wahr, daß Leben in ihr ist, auch wenn ich nicht da bin. Ein beglückendes und bedrückendes Gefühl. Die Menschen gehen irgendwohin, nach Hause, zu Besuch, ins Theater. Aus den Gaststätten dringt Musik nach draußen. Das hier sind keine Restaurants, sondern Gaststätten! Sobald ich zu Hause ankomme, spreche ich anders. Noch verkehren die O-Busse, am Kálvária-Hügel biegt die Straßenbahn, rot-weiße Marlboro-Werbung zur Schau tragend, rumpelnd in die Hauptstraße ein. Vor unserer Haustür fehlt ein weiteres Stück Bürgersteig; nun sehe ich, wie verdreckt und heruntergekommen das Treppenhaus ist; im Souterrain auf dem Hof eingeschlagene Oberlichter, Hodors Wohnung steht auch jetzt leer … Am Treppenaufgang hängt unser Briefkasten, unser Name steht darauf, ich stecke die Finger hinein, um nach Post für mich zu sehen, vergebens. Woher auch? Nur Staub. Tante B. schläft schon, die anderen sehen fern, es flimmert bläuliches Licht. In der Nachbarschaft ist im Badeofen das Kochen des Wassers zu hören. Die Kratzer am Schloß, von 1982, sind deutlich sichtbar, der Schlüssel dreht sich darin, die Farbe an der Tür blättert ab. Im Vorzimmer die Amaryllis, die Palme, im Regal die Zeitschriften, meine Märchenbücher, Siebenundsiebzig ungarische Volksmärchen, die ich 1958 von meinem Vater bekommen habe, und die Biographien, Broschüren, die in den Regalen im Zimmer, annähernd viertausend Bücher, keinen Platz haben. Ich packe meine Sachen auf die Truhe, darin Eingewecktes auch jetzt, nicht Kompott, weiter ins Zimmer, ich inspiziere die Wohnung, es ist dunkel hier, aus der Anrichte hole ich zwei Glühbirnen hervor, auch so herrscht Schummerlicht, der Strom ist zu schwach, daran bin ich nicht mehr gewöhnt. Die Badewanne ist voll mit Wasser, das bedeutet, daß es nur nachts ausreichenden Wasserdruck gibt. Im Schreibtisch die Schere, die Schreibutensilien, Papiere, in der kleinen Schublade die Ausweise, schnell nehme ich sie in die Hand: Das bin nun ich. Ich bin angekommen.
Mit wieviel pubertärer Wut, mit welcher Überheblichkeit verfolgte ich Ende der sechziger Jahre die Auswanderung meiner Verwandten! In der Zeit der vorübergehenden politischen Öffnung sind viele gute Bücher und Zeitschriften nach Rumänien gelangt, phantastische Vorträge waren zu hören, man konnte reisen. Alles beobachteten und verschlangen wir, bereiteten uns auf eine Laufbahn als Musiker, Schriftsteller, Ethnologe, Schauspieler, Regisseur, Philosoph, Ingenieur und Priester vor. Die Kultur sahen wir als unsere einzige Chance; dies war eine existentielle Erfahrung. Dann, reicher geworden um andere Erfahrungen (die obligatorische Erstanstellung im entlegensten Winkel des Landes, strafartiger Militärdienst, geheimdienstliche Abhöraktionen und Verhöre, verschiedene Erniedrigungen, Berufsverbote), verließen anderthalb Jahrzehnte später viele von denen, die sich seit langem darauf eingestellt hatten, ihre Heimatstadt, ihr Land, das Dacia Felix, das Glückliche Dazien.
Alle Glocken würden ertönen
Die Seele mit mir laut dröhnen
Niemals forderte ich meine Freunde zum Bleiben auf; zu schrecklich waren ihre Geschichten. Das Leid allerdings, das sich mit einer derartigen Ankündigung verband, das unsichere Warten, jede Abschiedsfete, jede ausgeräumte Wohnung, jedes Begleiten zum Bahnhof, die unter Schwierigkeiten hin- und hergehenden, nach und nach spärlicher werdenden Briefe und die daheim immer schwerer zu ertragenden Belastungen waren furchtbar. Es war uns zumute, als schleppten wir einen großen Holzbalken und als würde jeder einzelne, der sich absetzte, es denen nur um so schwerer machen, die sich noch nicht dazu entschlossen hatten. Zusehends beschlich uns das Gefühl, die Bedrängnis nicht mehr aushalten zu können. Wovor die anderen die Flucht ergriffen, dem Geflecht von Lüge und Angst, das schien ihnen recht zu geben; die Lage wurde immer verworrener und erdrückender. Im Siebenbürgen, Szatmár und Bukarest der achtziger Jahre hatte man den Eindruck, als würden wir fortwährend etwas zur Grabe tragen. Und Beerdigungen fanden tatsächlich statt. Zwar begingen viele Selbstmord, erlagen übermäßigem Alkoholkonsum, doch auch der Geheimdienst blieb nicht untätig und trieb manch einen auf die eine oder andere Weise in den Tod. Die Namen der Weggegangenen durften in der Presse nicht genannt werden. Öffentlich erwähnt wurden sie nur von den Staatssicherheitsoffizieren und Parteigenossen bei den Verhören. Mit den Gedichten, in denen ich das Bleiben und den Widerstand thematisierte, machte ich mir Mut: Dennoch! Trotz allem werden wir leben. Ich weinte um die, die weggehen würden, hatte Angst, du wirst dich dereinst an nichts erinnern. Ich beschrieb mich als einen versteinerten Baum, hoffte, daß jemand leben wird mit ihm, ach, mein Volk/mich einlädt in diese Welt. Redete mir ein: Wie ich lebe, das ist meine Heimat. Wußte: Sie wird ewig bleiben, die Narbe auf meiner Haut, auf unser aller Haut, was auch geschehen würde. Solange die Diktatur dauerte, brachte ich es nicht übers Herz, die anderen zu verlassen, insbesondere nicht in der Zeit des bitteren Endspiels. Von niemandem allerdings hätte ich dies als Aufgabe akzeptiert. Nur für mich selbst entschied ich das, kann sich der Mensch doch nur selbst zu etwas entschließen: Wenn keiner mehr bleibt, wenn wir alle weggehen,/um zu leben, wenigstens bis zum Tod,/wird es niemanden geben, niemanden, der aufersteht. Das schrieb ich am 9. November 1989. Noch ahnte ich nicht, daß anderthalb Monate später 46 Demonstranten in meiner Heimatstadt niedergeschossen werden würden. Und die Stadt lebt, es wimmelt darin von jungen Leuten. Bücher von vielen begabten Nachwuchsschriftstellern sind erschienen. Es gibt eine Auferstehung, eine Stafette.
Wenn du endlich Land zustrebst,
von Wellen zermürbt, aber lebst,
Nachdem ich nun Land betrat, fragte mich ein echter, weltberühmter und gut genährter Professor der Medizin, kaum daß wir uns zehn Minuten kannten, ob ich mich nicht als Vaterlandsverräterin fühlte. Denn was würde aus dem siebenbürgischen Ungarntum werden, wenn ein jeder – wenn auch nur halb – Siebenbürgen verließe? Nein, als solche empfand ich mich nicht. Doch wenn er meinte, so schlug ich ihm vor, würde ich gern jemandem meine Klausenburger Wohnung für fünf bis sechs Jahre überlassen, der dort den Helden spielen wollte. Statt dessen müßte auch ich nicht in einer Budapester Notunterkunft auf dreiundzwanzig Quadratmetern Raum mein Leben fristen, sondern könnte mich hier im vornehmen Villenviertel von Buda niederlassen … Eine Siebenbürgerin zu sein, sollte vielleicht doch nicht einer lebenslangen Strafe gleichen und Klausenburg nicht Charons Nachen. Zweiundvierzig Jahre ein Leben im Nationalitätenparadies. Wenn der Herr Professor wolle, könnten wir gern tauschen.
Siebenbürger zu sein, ist der Auffassung des ganz seinem Beruf ergebenen Doktors zufolge eine Mission. Im Namen irgendeiner abstrakten Idee oder politischen Vorstellung muß dort, in Transsylvanien, um jeden Preis die Stellung gehalten werden. Sagen wir, selbst um den Preis meines Lebens. Hätte ich ihm erzählt, daß ich 1975 in der besten Klausenburger Klinik, als ich bei einer Operation fast gestorben wäre, mein Kind verloren habe und eine erneute Schwangerschaft nie mehr möglich gewesen ist, daß damals die Betten mit zwei Patienten belegt wurden, Kopf bei Fuß, Fuß bei Kopf – das würde er als Arzt sicher verstanden haben … Doch auch auf der anderen großen Entbindungsstation der Stadt konnte man sich sogar noch 1993 nur unter kaltem Wasser im Krankensaal waschen, den Oberkörper. Für annähernd sechzig Frauen gab es keine einzige Dusche. Wer sich stark genug fühlte, ging in den Kesselraum, um sich dort irgendwie auch von der Taille abwärts zu reinigen …
Warum muß man alles Leid, jede Geschichte herunterleiern, warum muß man sich rechtfertigen, was man nicht mehr ertragen konnte, wovon man plötzlich genug hatte? Wer in der Grenzfestung zur Welt gekommen ist, der soll gefälligst auf der Warte verrecken? Ist es etwa von keinerlei Interesse, ob er sich lieber um seinen Beruf kümmern will; ist es etwa von keinerlei Belang, ob er hungert, ob er einen Paß erhält, ein Einreisevisum, ob er an Bücher, an Zeitschriften herankommt oder nicht? Wenn er daran zugrunde geht, dann hat er nicht seinen Mann gestanden? Und warum gibt es keine Wachablösung, keine Bevölkerung, die uns eine Atempause verschaffen könnte, wenn ein solch gesamtnationales Interesse bestehen sollte…? In den letzten fünfzig Jahren wurden hierzulande, in Siebenbürgen, im Namen des Friedenskampfes, des Klassenkampfes oder der mehrheitlichen nationalen Staatsidee vom einzelnen Entsagung und Opfer verlangt. Dieser Auffassung nach gibt es kein Privatleben, gibt es nicht den einzelnen, nur den großen kollektiven Apparat. Und jetzt sollte individuelles Leben um einer neuen, diesmal um einer nationalen Ideologie willen aufgegeben werden?
Die schwersten Jahre habe ich in meiner Heimat verbracht, aus eigenem Entschluß. Und ich denke, nun ein Anrecht darauf zu haben, ein ziviles Leben zu führen, eine Privatperson zu sein und das zu tun wie auch der Herr Professor-, was mir am meisten Spaß macht.
Die passende Antwort – nämlich daß jemand, der im Wohlstand lebe und keine Not leide, nicht das Recht habe, einem anderen vorzuschreiben, daß er Entbehrungen auf sich nehmen solle und eine Existenz in relativer Isolation, in ständiger Bedrohung angesichts der Nationalitätenfrage zu führen habe- blieb ich der Berühmtheit schuldig. Ein kluger Freund allerdings äußerte sich an diesem Abend dazu: Die meisten Menschen lebten gern dort, wo sie aufgewachsen seien. Und wenn jemand den Ort seiner Geburt verlasse, dann habe er sicher allen Grund dazu.
Wenn du alles verloren
und gerade so alles in einem …
Unverändert der Klausenburger Markt
in den lauernden, blauen Skarabäusaugen
Die Gegenstände. Ich wirbele in der Klausenburger Wohnung umher. Was soll ich jetzt mitnehmen? Einige Bilder, Schüsseln und Tassen. Die Winterstiefel. Diese zweibändige Gesamtausgabe packe ich ein, die Erstausgaben bleiben, hier ist mehr Platz, und ich brauche sie, wenn ich zu Hause bin … Wörterbücher sind sowohl hier als auch dort notwendig, eine solche Lebensweise, zwei Bibliotheken, kostet viel Geld; meine Bücher fehlen mir sehr. Das Bild meines Vaters von der Wand wäre schön. Doch auch diese Wohnung will ich nicht ihrer Seele berauben. Auf einen Ort in dieser Stadt, wo ich mich zu Hause fühle, kann ich nicht verzichten. Bett und Schreibtisch stehen am gewohnten Platz, in den Schubladen die Klausenburger Adreßaufkleber, Briefe, Auszeichnungen meiner Eltern, aus der Grundschulzeit das Poesiealbum mit den Zeichnungen, die Bilder der Verwandten, Einladungen zum Abiturientenball, Partituren. Der Flügel klingt zusehends verstimmt. Ich spiele darauf einen Psalm, meine Finger sind wie eingerostet. Ich rufe J. Sz. an. Ihrer Stimme ist anzumerken, daß sie sich freut; am nächsten Tag bricht sie in Tränen aus: »Du fehlst mir sehr.« Auch ich kann die Tränen nicht zurückhalten, als ich sie umarme. Wir betreten die mit Büchern und Wandteppichen vollgestopfte Wohnung, im Zimmer peile ich instinktiv den Lehnstuhl an. Das ist mein Platz! Alles ist unverändert geblieben, und trotzdem ist alles verloren.
Verloren das seit meiner Kindheit vom Fenster aus zu sehende Bild. Über die alten Hausdächer erheben sich jetzt ein Betonklotz, ein Bankgebäude und ein gigantisches Betonkreuz. Allmählich verliert die Kulisse ihr Gesicht, die äußere Atmosphäre meiner Geburtsstadt wandelt sich, allerdings nicht zum Guten, sondern sie versackt im Dreck, wird von Betondächern und neureichem Renommiergehabe erdrückt. Diese einst weltoffene Stadt nimmt immer mehr dörfliches Gepräge an.
Wenn ich mich auf den Weg nach Hause mache, nach Budapest, habe ich bereits einige Tage, Wochen oder Monate zu Hause in Klausenburg verbracht. Ich schlage die Tür zu, die 1982 verkratzt worden ist, sieben Jahre später stellte sich heraus, daß damals vom Sicherheitsdienst eine Abhörvorrichtung installiert worden war. Wieder habe ich mir alles im Theater angesehen, meine Freunde besucht und mich von ihnen verabschiedet (zum wievielten Male?), mich in den Geschäften umgesehen und einige Wege bei den noch immer sozialistisch anmutenden Behörden erledigt. Das Auto wendet auf dem Platz, jedes Haus, jede Straße, jeder Baum, jede Brücke könnte eine Geschichte erzählen, ich begreife nicht, weshalb ich die Stadt jetzt verlasse, wo ich doch hier wohne; seine Vergangenheit, seine Schätze verläßt der Mensch nicht einfach. Glücklich der, bei dem das Gegebene und das Gewählte eins sind.
Ich versuche, ein zweigeteiltes Leben zu führen. Ich schreibe und sage, was mit mir in Klausenburg, was mit mir durch diese Stadt geschehen, was in mir vorgegangen ist. Doch nur hier, in Budapest, zum Himmel blickend, der sich zwischen den Häuserzeilen auftut, kann ich ruhig und ohne ein Gefühl der Beklommenheit nachdenken. Durch die Erinnerung wird alles intensiv und genau, spürbar anschaulich, sie beschnuppert ihren Gegenstand, dreht sich im Kreise, sucht nach etwas. Ich mache mir einen Merkzettel, was ich beim nächstenmahl mitnehmen, mir ansehen muß …
Wenn Budapest Schultern hätte, breite,
eine behaarte Brust, beileibe,
meinen Kopf könnte ich hineinbohren:
Ach, fühlen würde ich mich wie neugeboren…
Dies ist eine dritte Lebensform, dort zufrieden, wo ich gerade bin, nicht ohne die andere Stadt mehr oder minder schmerzlich zu vermissen. Verlust und Versprechen. Mit meinen nach Budapest gekommenen Freunden aus dem ehemaligen und heute zu Serbien und Kroatien gehörenden Südungarn amüsiere ich mich über einige Klagegesänge der hier heimischen Landsleute. Und auch darüber, wie jemand so leben, wie jemand weder Serbisch noch Rumänisch verstehen kann … Während der Rückfahrt lasse ich meinen Blick über die gotische Kirche zu Fenes schweifen, die Häuser in Körösfő, die Landschaft hinter dem Paniti-Paß, die Abzweigung nach Gyerőmonostor und das Köröstal; bis zum Königspaß in den Westkarpaten weine ich, ich verberge die innerlich fließenden Tränen auch vor meinen Freunden. Vor denen, die mich von Budapest auf einer solchen Reise nach Klausenburg begleiten. Meist gehören sie zu jenen, mit denen zusammen und derentwegen in Budapest zu sein mir lohnenswert erscheint. Einer Metropole, die selbst in ihrem Verfall herrlich ist, einer reichen Literatur mit großem Atem und wo meine Freunde-das ist es ja! -liebenswert sind, klug, spöttisch, müde, genial und sich abrackern. Sie sind wir. Zwei Flügel habe ich, zwei Hände, zwei Ohren, einen rechten Verstand habe ich, zwei Städte. Und zum dritten die gleichgewichtigen Teile: meinen Mund, mein Herz, und was mir der liebe Gott sonst noch zu meinem Wohlergehen mit auf den Weg gegeben hat.
Ankommen tue ich im allgemeinen in Ártánd. Auf der Hinreise fallen mir die immer ärmer scheinenden östlichen Landesteile ins Auge, nun auf der Rückfahrt erkenne ich, wie gepflegt sie sind, sogar die Straßen sind in spürbar besserem Zustand als in Rumänien … An der Grenze gibt es seit neuestem keine Schwierigkeiten, doch die Magenkrämpfe werden mich nie verlassen. Alles hier in Ungarn macht einen unglaublich zivilisierten Eindruck. Beim Anblick des Hoheitszeichens klopft mir das Herz, und ich empfinde eine tiefe Erleichterung, als, wäre ich von irgendwo entkommen. Wieder ist es mir gelungen, einem Land den Rücken zu kehren, wo der Ausgang von nichts vorhersehbar ist, lediglich gute Geländekenntnisse eine annähernde Einschätzung der Lage erlauben und Raffinesse ohne Ende ans Ziel führt, wo andere mir sagen, wer ich bin: eine Rumänin ungarischer Muttersprache, eine siebenbürgische Ungarin, eine ungarische, der Glaubensgemeinschaft abtrünnige Jüdin, für Freidenker eine Gläubige, außerdem eine Geschiedene, eine Kinderlose, eine Frau, eine Liberale, eine Intellektuelle…
Ich komme und gehe, um all dies zu sein. Und sogar noch mehr. Ich wohne im Wespennest.
Budapest, am 5. Februar 1996
[1] Hundertfünfzig Jahre lang, bis 1711, autonomes Fürstentum. Klausenburg, Geburtsstadt von König Matthias Corvinus und dem Mathematiker János Bolyai, über zweieinhalb Jahrhunderte Metropole der Fürsten, Bürger, Handwerker und Universitäten. Und obwohl dies infolge einer jahrzehntelang stupiden Bevölkerungspolitik der Vergangenheit angehört und sich die Stadt heute zu einem Industriezentrum mit mehreren hundert Randbezirken entwickelt hat, besitzt sie noch immer elf Universitäten, Hochschulen und zwei Opernhäuser.
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Erschienen im Band: Zsófia Balla, Schönes, trauriges Land. Edition suhrkamp, Frankfurt/M 1998 pp 56-71.
Von Dragoslav Dedović: Von edlen Mördern und gedungenen Humanisten. Drava Verlag, Wien 1997.
]]>the house on the hill
]]>Donnerstag, 24. Mai 2012, um 20:00 Uhr, Kulturraum, Militärstrasse 60, 3014 Bern
Melinda Nadj Abonji führt als Moderatorin durch den Abend. Zusammen mit Balts Nill zündet sie auch ein paar literarisch-musikalische Wunderkerzen.
INFO & LINKS
www.kulturraum.ch
]]>«My god is better than your god (hurricane)», 2012, from the series «TV drawings»
]]>Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić).
Dittrich Verlag, Berlin 2011.
Sreten (Belgrad) liest aus seinem neuen Roman “An den unbekannten Helden”.
Jurczok 1001 stellt den Gast künstlerisch vor.
Das Publikum begrüssen Goran Potkonjak und Melinda Nadj Abonji.
Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:
THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch
INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch
Warum sollten wir uns nicht die Freiheit herausnehmen, uns jemanden vorzustellen? einen Mann stellen wir uns vor, der im Kaspar-Escher-Haus, in seinem aufs Wesentliche reduzierte Büro sitzt, einen Brief tippt, fingerle, nennt er diese Tätigkeit, die ihm eine ausserordentliche Ruhe verschafft, man spannt einen Bogen ein, studiert nochmals die Akten, setzt sich wieder ordentlich hin, richtet die Brille, lässt die Hände auf der Olympia ruhen (draussen wird es hell, es schneit immer noch) man ist Herr Weidmann, der augenlos zum Fenster blickt, weil er sich konzentriert, darauf, dass sein Hirn sich maximal in den Fingern sammelt, Hirn-Hände-Bündnis (Herr Weidmann gehört zu den Menschen, die Startschüsse und den Moment danach lieben – Pferde, die mit ihren Reitern schnaubend aus ihren Boxen schiessen, die geballte Kraft, wenn die Sprinter nach dem Knall von Null auf Hundert beschleunigen). Jetzt! ja sicher, ein Beamter ist eine Art Sportler, beide Tätigkeiten beruhen auf ausgeprägten Prinzipien.
16. Januar 1971
Sehr geehrter Herr Fluri
Mit Ihrer Zuschrift vom 9. Januar 1971 ersuchen Sie um die Wiedererwägung unserer Verfügung vom 29. Dezember 1970 betreffend die Einreise der beiden jugoslawischen Kinder Miladinka und Petko zum Verbleib bei den Eltern in Männedorf. Der Kindsvater befindet sich seit dem 28. Juli 1969 in der Schweiz. Anlässlich der Zulassung der Mutter hat sich Ihr Arbeitnehmer verpflichtet, auf den Nachzug der beiden Kinder zu verzichten, solange die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.
Hätte ich keine Grundsätze, würde ich für die Monatsangaben einmal Zahlen verwenden, dann wieder würde ich sie ausschreiben, wo wäre da die Logik? wo kämen wir da hin? Ein Grundsatz ist eben mehr als ein ästhetisches Prinzip, denkt Herr Weidmann, obwohl es nicht ganz unwesentlich ist, dass eine Zahlenhäufung unschön aussieht und ausserdem die schnelle Erfassung dessen, was mitgeteilt werden soll, erschwert, Zahlenanhäufungstumult, und Herr Weidmann streckt seine Finger, prüft seine Nägel, natürlich ist ein Beamter hinter den Kulissen tätig, ein unermüdlicher, stiller Wirker. Herr Weidmann räuspert sich, zieht seine Hände von den Tasten und seine Brille von der Nase, stützt sich auf den Tisch, steht auf, streift mit einem Blick das Familienfoto, gerahmt, genau gerichtet, der Sportler hingegen sieht sich immer wieder mit der Öffentlichkeit konfrontiert, was sicher auch seine Vorteile hat, und Herr Weidmann merkt erst jetzt, dass er aufgestanden ist, vor dem Fenster steht, ehrlich gesagt hätte er auch das Zeug zum Sportler gehabt, ein Radfahrer hätte aus ihm werden können! Ich war wirklich gut, sagt er zu den sanft mit Schnee bedeckten Platanen, zur Limmat, die grau vor sich hinfliesst, aber: es war eine klare Entscheidung.
Wir stellen uns einen Menschen vor, versuchen, wenigstens ein paar Gänge seiner Gedanken nachzuvollziehen, dieser Mensch, Herr Weidmann, wird bei der Erinnerung dessen, was von seiner Anlage her auch aus ihm hätte werden können, nicht wehmütig, das Vergessen erachtet er für eine sehr nützliche, menschliche Eigenschaft, nicht so die Vergesslichkeit, die man in seinem Beruf mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bekämpfen hat, demzufolge macht er sich auch keine Gedanken, warum er sich ausgerechnet heute daran erinnert, dass er sich bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr vor allem um sein Training, seine Ernährung, seine Ausrüstung und physische Konstitution gekümmert hat. Eine klare Entscheidung ist das halbe Leben, denkt Herr Weidmann und sieht zwei Blässhühner, die sich auf der Limmat treiben lassen, was erstaunlich ist, weil man sie im Winter oft nur in Gruppen sieht (und er öffnet das Fenster, um sie besser zu sehen) diese beiden kleinen dunkel gefiederten Wasservögel, die auf dem eingezwängten Fluss so unverschämt schön aussehen, der weisse Schnabel, das ebenso weisse Schild auf der Stirn, die Doppelung, ein perfektes Paar, dazu die kompakten Flocken, und Herr Weidmann lehnt sich aus dem Fenster, hört die hellen Rufe der Blässhühner aus seiner Kindheit, erinnert sich an den plötzlichen Kopfsprung, wenn eines der Tiere überraschend schwungvoll abtauchte, die Wetten mit seinem Bruder, wie lange es wohl dauern würde, bis der Vogel wieder auftauchte, und Herr Weidmann, dessen Haar weiss geschmückt ist, lehnt sich noch weiter aus dem Fenster, weil das Paar aus seinem Blickfeld verschwunden ist, und fast überkommt ihn die Lust, auf die Fensterbank zu klettern, sich auf Zehenspitzen nach ihm zu strecken, aber stattdessen fällt Herrn Weidmann eine Eigenschaft des Flusses auf, seine Gefrässigkeit, die unzähligen schönen Schneekristalle, die von der Limmat vertilgt werden, auf Nimmerwiedersehen im Flusswasser verschwinden, und Herr Weidmann versteht nicht, warum ihn das in diesem Moment ärgert, es ärgert ihn so sehr, dass ihm ein etwas unbeholfener Fluch entfährt, und weil ihm vom plötzlichen Ärger und von der unerwarteten Äusserung heiss wird, zieht er seinen Wollpullover über Hals und Kopf, merkt erst jetzt, dass seine Haare nass sind, sein Gesicht feucht, Herr Weidmann rupft an den Ärmeln, flucht wieder, diesmal weniger unbeholfen, er tut es so laut und kräftig, dass wir ihn hören: InZukunftwerdeichmirverdammtnochmalmeinePulloverselberkaufen!
Und Herr Weidmann schliesst das Fenster mit einem lauten Knall (dieser Tag fängt an, ihn von Grund auf zu nerven) er dreht sich um, fährt sich mit den Handflächen übers Gesicht und die Stirn, schliesst kurz die Augen, um sich dann entschlossen wieder an den Tisch zu setzen.
Die Hände liegen besonnen auf der Olympia – wo war er stecken geblieben? – bevor sie erneut schreiben, und er spürt, wie die Buchstaben seinen Körper durchwandern, wie der kontinuierliche, mechanische Rhythmus wieder eine angenehme Ruhe in ihm entstehen lässt.
Wir bedauern, Ihnen keinen besseren Bescheid geben zu können, und grüssen Sie mit vorzüglicher Hochachtung
Fremdenpolizei des Kantons Zürich
Weidmann
Und wir stellen uns natürlich nicht vor, dass Herr Weidmann den Brief an den Metzgermeister Fluri so beendet, sondern wir wissen es, dies, nachdem er folgendes getippt hat:
Die Zulassungsfrist für Angehörige von ausländischen Arbeitskräften aus entfernteren Ländern beträgt drei Jahre. In Anbetracht der gegenwärtigen Ueberfremdung unseres Landes und des grossen Zuwanderungsdruckes von Angehörigen ausländischer Arbeitskräfte sind vorzeitige Familienzulassungen nicht vertretbar. Sofern die Kinder in Jugoslawien nicht mehr ordnungsgemäss untergebracht und betreut werden können, müsste der Mutter nahe gelegt werden, zu diesem Zwecke in ihre Heimat zurückzukehren. Im Hinblick auf die rigorosen Massnahmen gegen die Ueberfremdung können persönliche oder humanitäre Gründe leider keine Berücksichtigung mehr finden.
Herr Weidmann unterschreibt, nachdem er seinen Namen getippt hat, mit Kugelschreiber, das heisst, er tut es, indem er seinen getippten Namen überschreibt, seine Hand, die sich in raschen Schwüngen bewegt, nachdoppelt, bekräftigt.
Wenn wir aber genauer hinsehen, rollen sich die ununterscheidbar ineinander geschwungenen handschriftlichen Buchstaben zu einem stachligen Draht aus – Bis hierher und nicht weiter! Das Übertreten dieser Grenze führt Sie ins gefährliche Gebiet der Vorstellungskraft!
P.S. Auf dem Fluss waren nicht nur zwei Blässhühner zu sehen, sondern auch ein kleines, mit farbigen Lichtern ausgeleuchtetes Tanzschiff, auf dem sommerlich gekleidete Paare innige Kreise drehten. Ja, mitten im Winter.
]]>S. 14
Eines der Prinzipien.
Dass nichts bleibt. Möge dies eines der Prinzipien sein. Wenn es für uns schon keinen Ausweg gibt.
Noch eines der Prinzipien.
Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: Freiheit oder Tod. Ja oder Nein. Alles oder Nichts. Das Prinzip des ausgeschlossenen Zweiten: Terrorismus. Wenn Unschuldige sterben müssen, so mögen sie sterben. Das Prinzip des ausgeschlossenen Ersten: Gott schweigt. Princip ist Prinzip.
Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić). Dittrich Verlag, Berlin 2011.
]]>Spoken Beats
Theater Neumarkt, Zürich
10. März 2012
Text, Performance – Jurczok 1001
Ton, Mix – Gabriel at Sound Development
Kamera, Cut – Claudia Bach
Ich stah immer irgendwo
vor de drüü gliiche Frage:
Wie fangi a? Wie gahts wiiter?
Und wieviel gits defür Gage?
Ich stah immer irgendwo
nu mir sälber im Wäg
oder, chasch mer eine säge
wo besser als ich wär?
Ich bin immer irgendwo
halt au de Ziit vorus
die nächschte paar Jahr
gibi im Schlaf Interviews
Frögeds das, säg ich das
Frögeds andersch, cheris um
und wänn de Wecker endlich schället
isch es irgendwo scho Tag
Ich bin immer, irgendwo, wie so
frög mi nöd wieso
ich bin immer irgendwie, irgendwo, wie so
ja, scho
Ich bin immer irgendwo
es biz zwüsched mine Bei
es biz näbd de Schueh
mit eim Fuess bi dier dihei
ich bin immer irgendwo
mitem Chopf i de Wulche
uf dim Schoos, i dine Händ
und biire biz bi ihre
irgendwie bini irgendwo
halt au nu en Mänsch
wo sich nöd vill besser
als e Hosetäsche kännt
die besser Helfti vo mim Hirn
weiss das längschtens scho
aber de Rescht vo mier isch mängmal
halt dänn doch irgendwo
Ich bin, irgendwie
was chan ich defüür?
Ich bin immer irgendwie nie
elleige am Stüür
Ich stah immer irgendwo
wieso im Gägeliecht
vo Lüüt, womer ständig säged
was us mier no wird
Ich stah immer irgendwo
wieso anere Chrüüzig
det wohned d Schuelkollege
all i ihrne Hüüsli
Ich stah immer irgendwo
mitem Rugge zu de Wand
lueg uf de Dancefloor
und am Deejay uf d Hand
Zum Glück gits die Lieder
wo eim s Gfühl gänd
me heg irgendwo e Bestimmig
und all gsehnd das irgendwänn
Ich bin immer, irgendwo
bini scho froh, dassi no läbe
ich bin immer irgendwo
wie so, ja, was sölli säge?
Ich stah immer irgendwo
zwüsched em Yoghurt und em Brot
jetzt händs umgstellt, umbout
mi händ no en grössere Coop
S Brot isch jetzt neu
ganz z hinderscht hinne
nüm wie früener die fairi
Baumwulllinie
Yoghurt häts sicher
fascht zäh Meter
richtigi, light
und eine uf Demeter
Am Schluss chaufi sones
Doppelpack Underwösch
wo irgendwo uf de Wält
für en Tag de Durscht löscht
Ich bin immer, irgendwo, wie so
losisch zue?
Ich bin immer, irgendwo, wie so
moll, das chunt scho guet
Ich bin immer irgendwo
zwüsched füfzähni und
ich bin eifach überqualifiziert
ich mach nuno, was mi wükli innezieht
Ich stah immer irgendwo
uf de Gäschtelischte
Cash bruuchi eigentlich nu
fü die nächschti Mieti
Ich sitz immer irgendwo
bi de Tuube ufem Dach
wasi säg und was i mach
isch wie so Tag und Nacht
Drum isch Mittag irgendwo
fascht die beschti Ziit
lüüt mer a, dänn seisch mer
was dr ufem Mage liit
Ich bin immer, ja, doch
das hätt e chli öppis,
ich bin immer irgendwo
wieso? Störts di?
Ich sött immer irgendwo
de Finger usenäh
ich sött immer irgendwo
wie so öppis zuegäh
so vill Lüüt glaubed a mich
und hoffed dassis schaff
kei Ahnig wo du läbsch
ich bin en Star i däre Stadt
ich bin immer irgendwo
zwüsched Wädi und New York
und wänns irgendwo en Mc bruucht
rüefeds mi sofort
drum bini immer irgendwie wie so:
hey, weisch was?
Ihr chönd mer all am, irgendwo
ich weiss genau wasi mach
S. 37
Der Querschnitt eines Apfels legt einen fünfzackigen Stern frei. Der Längsschnitt des Apfels verdeckt den fünfzackigen Stern. Der Querschnitt eines Weihnachtsbaums legt eine Schneeflocke frei. Der Längsschnitt des Weihnachtsbaums verdeckt die Weihnachtsgeschenke. Der Querschnitt der Milchstrasse legt eine spiralförmige Himmelsrutsche frei. Der Längsschnitt der Milchstrasse verdeckt die spiralförmige Himmelsrutsche. Der Querschnitt eines Bleistifts legt eine totale Sonnenfinsternis frei. Der Längsschnitt des Bleistifts verdeckt die totale Sonnenfinsternis und legt einen dünnen Pfeil frei. Der Querschnitt einer weissen Taube im Flug legt Christus am Kreuz frei. Der Längsschnitt der weissen Taube ist tödlich, aber drei Tage später wird die weisse Taube wiederauferstehen. Der Querschnitt einer Frau im Koma legt das Leben frei. Der Längsschnitt der Frau im Koma verdeckt die Freudentränen. Der Querschnitt des Schwarzen Meeres in der Tiefe, zu der kein Licht vordringt, legt Schwärme fluoreszierender Quallen frei. Ein Längsschnitt des Schwarzen Meeres ist nicht möglich.
S. 60
Ich fahre bis zur letzten Haltestelle, die die erste ist. Hier muss ich aus der U-Bahn aussteigen, wieder hinaus auf die Strasse. Die Rolltreppe funktioniert nicht, ich steige zu Fuss hinauf, als würde ich auftauchen, hinein in das Morgenlicht der Welt und der Stadt. Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem meiner Schritte. Der erste lautet: Hallo. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Hast du Lust zu ficken? Dann wieder eine leere Stufe. Danach: Ich dich oder du mich? Dann eine Pause. Danach: Ich dich? Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … deinen Wünschen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später bin ich auf der Strasse, ich schreite gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Ich gehe für dich.
S. 65
Die Wohnung liegt in Trümmern. Alle Sachen sind durcheinandergeworfen und zerbrochen, alle Wände abgewetzt und zerfurcht, alle Böden und Decken aufgerissen, alle Leitungen und Installationen entblösst und ausgerupft, alle Schlösser und Türgriffe herausgerissen, alle Geräte kaputtgeschlagen, die Eingeweide freigelegt, die lebensnotwendigen Organe verschwunden, die Vorhänge an den Ecken zerknittert, plattgetreten und schmutzig, alle Betten auseinandergenommen und an die Wand geworfen, alle Spielzeuge liegen jedoch ordentlich aufgeräumt in einer Kartonschachtel, um die eine Seidenschleife mit dem Schriftzug des GDÖP, des Geheimdienstes und der Öffentlichen Polizei gewickelt ist. Im Nebenzimmer schluchzt jemand. Und kratzt mit den Nägeln an die Tapete. Hör auf damit, denke ich. Die Schluchzer hören auf. Hör auf damit, denke ich wieder. Das Kratzen hört auf. Hör auf damit, denke ich. Im Nebenzimmer ist niemand mehr. Dann gehe ich hinaus, stürze die Treppe hinunter, wie ein Bach durch das Grün, auf der Strasse sind scheinbar die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche, die gleichen Leben, die gleichen Wahrheiten, die gleichen Giftstoffe, die gleichen Ströme in den Fernleitungen, die gleichen Düsenflugzeuge in der Höhe, die gleichen Minerale im Asphalt und im Beton und in unseren Knochen, du bist der Gleiche in mir, in Gedankenschnelle mitten ins Knochenmark eingebaut, scheinbar der gleiche Tag, das gleiche pulsierende Protoplasma.
Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić).
Dittrich Verlag, Berlin 2011.
Es will einer austreten
nur mit Wolkentuch bekleidet.
Sein Herz gehört schon
nicht mehr dieser Welt.
Nur ein Schuss, der
Blumengott im Fieber
schlief.
In deiner Tasse tropft
der letzte Regenwind,
trink sie aus
und fülle deinen
Mund mit Himmel.
Mariella Mehr. In: San Colombano e attesa. Effigie edizioni, Milano 2010.
]]>Serbo oder Kroate, Tito, lange tot
sauber ein Sprache ist
dein Nase und Mund zu gross ist
für Sprache, Bürgersteig, Gehsteig
du anpassen, nicht drängeln
ein Gehsteig nicht nebeneinander gehen
mit sieben Kinder, Jugo, hast viel Sonne
im Schwanz, Verhütung, hör mal Jugo
viel Kinder ist wie Tier, aber du nicht
Tier, weil Sprache
capito?
Der Text bezieht sich auf eine Zeitungsnotiz im Tages-Anzeiger. Darin steht unter anderem, dass die italienische Autorin Oriana Fallaci den Immigranten vorwirft, sich „wie Ratten zu vermehren“.
]]>Sreten Ugričić, Schriftsteller, Philosoph, Astronom, Konzeptkünstler, bis vor kurzem Leiter der serbischen Nationalbibliothek, las im vergangenen Dezember, am St. Nikolaustag, im Zürcher Theater Neumarkt. Er stellte seinen Essay „Das Leben ist Ausland“ vor, den er für die Leipziger Buchmesse 2011 geschrieben hatte. Vorstellen, das klingt trocken, langweilig, das Gegenteil davon ist wahr. Es war ein geistreicher, anregender Abend. Das Zürcher Publikum agierte ungewohnt, es beteiligte sich rege, wurde nicht müde, obwohl der Abend schlussendlich zweieinhalb Stunden dauerte. Nach Sretens Besuch habe ich mich umgehend entschieden, eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben zu rufen, mit dem Titel „Das Leben ist Ausland“. Ich habe Sreten geschrieben, ihm mitgeteilt, dass ich ihn, als Namensgeber meiner neuen Reihe, auch gern als ersten Gast einladen würde, diesmal, um seinen Roman „An den unbekannten Helden“ vorzustellen. Er antwortete mir mit folgender mail: „Last few days I am in all media here, main news, because my Government wants to kick me out from the library. Minister of Police (who was in nineties among the closest assistants of Slobodan Milošević) yesterday told to journalist that I must be put in prison immediately because I support the assassination on our president Tadić. What can I tell you.“
Natürlich habe ich überhaupt nichts begriffen. Zurückzuschreiben, zu fragen, das war unmöglich. Die Hektik und Dringlichkeit in diesen wenigen Zeilen verrieten, dass Sreten sich um anderes kümmern musste, als um mich, meine Besorgnis, meine Frage, was genau geschehen war. Ich fing an, wie verrückt im Internet zu suchen, nach seinem Namen, und ich wurde fündig: Ein paar Stunden nach Sretens mail konnte ich auf einer website lesen, dass er inzwischen als Direktor der Nationalbibliothek entlassen worden war. Nach einer dringlichen Telefonkonferenz der Regierung sei dieser Beschluss gefasst worden, hiess es. Dass der Kulturminister, der einzige, der wohl für Sreten eingetreten wäre, an der Konferenz nicht beteiligt war, habe ich erst später erfahren.
Wie ist es also dazu gekommen, dass man Sreten entlassen hat, der während Jahren die Nationalbibliothek so geleitet hat, dass sie mittlerweile eine internationale Reputation geniesst? Dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihm sagen, er habe nicht nur technische Erneuerungen initiiert, sondern die Zusammenarbeit und den Dialog grossgeschrieben und gefördert?
Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens der „Republika Sprska“, eines Teilstaats Bosniens, wurde am 9. Januar eine feierliche Veranstaltung in Banja Luka angesetzt. Politische Repräsentanten der Republik Serbien, Präsident Boris Tadić, Premierminister Mirko Cvetković und Innenminister Ivica Daĉić, kamen nach Banja Luka, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Am Vorabend entdeckte die Polizei im Kellergeschoss der Sporthalle, in der die Veranstaltung geplant war, ein Arsenal von Waffen, Munition und Sprengstoff.
Der montenegrinische Parlamentarier und Autor Andrej Nikolaidis schrieb am 11. Januar in einem online Medium einen polemischen Kommentar zu diesem Anlass, ironisch könnte man ihn auch nennen, stellenweise sogar unüberlegt. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der „Republika Srpska“, die auf Mord und Vertreibung beruhe, stellt Nikolaidis die Frage, ob man, falls der Sprengstoff explodiert wäre, dies nicht als „zivilisatorischen Fortschritt“ betrachten könnte. Die Belgrader Presse, allen voran die regierungsnahe „Politika“, zitierte genau diesen einen Satz aus Nikolaidis Text (der übrigens auf www.e-novine.com nachzulesen ist), von dem sie sicher sein konnte, dass die Öffentlichkeit empört, ja hysterisch darauf reagieren würde. Das zu Erwartende trat ein, die aufgeheizten Schlagzeilen übertrafen sich, Nikolaidis wurde als Terrorist gehandelt.
Aufgrund dieser Hetze sah sich das „Forum of Writers“ dazu veranlasst, einen Aufruf zu veröffentlichen, in dem entschieden für die freie Meinungsäusserung eingetreten wurde und damit auch für den persönlichen Schutz von Nikolaidis. Die „Fatwa“ der Medien gegen Nikolaidis müsse aufgehoben werden, heisst es. Stattdessen solle sein Text im Wortlaut publiziert werden, damit sich die Leser selbst ein Bild davon machen könnten. Diesen Aufruf hat auch Sreten Ugriĉić unterschrieben und damit nahm die Medienhetze eine neue Richtung; das Boulevardblatt „Press“ titelte: „Das gibt es nur in Serbien: Nationalbibliothekar unterstützt Ermordung von Präsident Tadić“.
Die Reaktion von einigen Mitgliedern der serbischen Regierung folgte unmittelbar: Sreten müsse als Direktor der Nationalbibliothek sofort zurücktreten. Dem Innenminister Ivica Daĉić reichte das nicht. Er plädierte dafür, dass man Sreten ins Gefängnis werfen solle, weil er den Terrorismus unterstütze – Ivica Daĉić, der übrigens während der letzten Jahre von Miloŝevićs Herrschaft Vorsitzender der Sozialistischen Partei war, sich nie öffentlich und explizit von den Entscheidungen, welche die politische Elite des serbischen Staates zu dieser Zeit getroffen hatte, distanziert oder dafür irgendwelche Verantwortung übernommen hat.
Warum, so kann man sich fragen, wird dem Leiter der Nationalbibliothek so viel unliebsame Aufmerksamkeit zuteil?
Sreten wurde vor zehn Jahren von Zoran Djindjic zum Direktor der Nationalbibliothek berufen. Er blieb, auch nach dessen Ermordung, im Amt, modernisierte die Bibliothek, machte sie, wie bereits erwähnt, zu einer angesehenen, gut besuchten kulturellen Institution. Angefeindet wurde er ständig, stetig. Und dies sicher auch, weil seine Reden und literarischen Texte elektrisieren, die Worte vor Energie leuchten – das, was das Zürcher Publikum sofort bei seiner Anwesenheit gespürt hat: Hier spricht einer, der scharf denkt, kritisch ist gegenüber jeder Form von Macht, fähig ist, die Dinge anders, das heisst, neu zu denken. Sretens Poetik, die ausserdem einer tiefen Menschlichkeit verpflichtet ist, indem sie den Menschen für mündig erklärt. Ja natürlich, das ist die grösste Gefahr für alle autoritären, zynischen Köpfe, die Wörter wie Demokratie, Verfassung, Freiheit missbrauchen, um im gleichen Atemzug einen Menschen als Terroristen zu verhetzen, der mit seiner Arbeit, seinem Denken nichts anderes getan hat als für ein freies, offenes Serbien einzutreten.
In einer öffentlichen Rede im Belgrader Kulturzentrum sagte Sreten: „A warning to the police from a library terrorist: in the hall of the CCB there will be an explosion – not of a bomb, but of all of us present. And we shall win. Because, as you know: whoever attacks writers with a nightstick is defeated and hated from the start; while the one who reads – wins!“
Nachtrag (6. März 2012):
Obwohl zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen gegen den Beschluss der serbischen Regierung protestiert haben, obwohl etliche internationale Medien (NZZ, Süddeutsche Zeitung, la liberté, DRS 2, website der Biennale Berlin etc.) berichtet haben, wurde der Entscheid nicht rückgängig gemacht. Bereits wenige Tage nach Ugriĉićs Entlassung fing dessen Nachfolger mit seiner Arbeit an. Sreten selbst hat mittlerweile bei der Nationalbibliothek einen marginalen Job bekommen – die Regierung war gesetzlich dazu verpflichtet, ihm in der Bibliothek eine neue Arbeit anzubieten – in seinem Büro an der Peripherie der Bibliothek muss Sreten miterleben, wie zahlreiche, von ihm initiierte Projekte rückgängig gemacht, seine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen werden. Die Situation ist für Sreten so unerträglich geworden, dass er beschlossen hat, längere Zeit im Ausland zu leben und zu arbeiten. Von der Landis & Gyr Stiftung in Zug und vom Zürcher Literaturhaus hat er ein Aufenthaltsstipendium erhalten, das heisst, ab Mitte März wird Sreten für mehrere Monate in der Schweiz sein.
]]>an attempt to build a house
by Goran Potkonjak
]]>Nur unterschiedliche Dinge, Menschen, Kulturen, Erscheinungen, Begriffe können ähnlich sein, und die Ähnlichkeit liegt im exklusiven Bereich und in der Kompetenz der Vorstellungkraft, so schreibt Sreten Ugriĉić, von dem der vieldeutige Titel „Das Leben ist Ausland“ stammt. Wir sind alle suchend, besorgt, ängstlich, voller Energie, wir schwitzen alle mehr oder weniger, und wir sind alle nicht wirklich zu Hause. Wir glauben nicht an den Schweizer, an den Jugo, sondern an offene Ohren. Wir glauben nicht an Information, sondern ans Zuhören, ans Erzählen. Und der Kopf, er kann selber denken. Und das Herz, es kann mitfühlen.
Drei bis höchstens vier Mal im Jahr laden wir einen Künstler, eine Künstlerin vom Balkan ein und zwar aus den Bereichen Literatur, Film, bildende Kunst, Musik. Der Schwerpunkt liegt im Bereich Literatur. Die Gäste treffen hier jeweils auf eine Künstlerin, einen Künstler, der den Auftrag erhalten hat, sich mit der Arbeit des Eingeladenen zu beschäftigen. Am Auftrittsabend stellt die hiesige Künstlerin den Gast insofern vor, indem sie die Früchte ihrer Beschäftigung mit dem betreffenden ausländischen Künstler präsentiert.
Da es zwischen Ost und West immer noch erhebliche Berührungsängste und Bildungslücken gibt, pflegen wir einen Austausch, bauen Brücken, zwischen einzelnen Menschen – statt auf ein Wunder zu warten. Lesen, performen, erzählen, zuhören, diskutieren. Das ist alles.
ich will das
ich will das da
sieht gut aus da
an mir sieht’s gut aus
es sieht natürlich aus an mir
100%
Baumwolle, ein Glücksfall
Made in Italy
Italien hat Tradition
Geschmack meinst du
Sinneskultur
Sonne und Lebensqualität
Genuss, Schönheit, ja du
sieht wirklich gut aus da
an mir wirkt’s légère
leggiero, die Italiener haben uns was voraus
Italien, ich komme
Venezia im Frühling, ein Traum
ein klassischer Schnitt
aber nicht langweilig
im Trend, aber nicht
sexy, aber nicht cheap
und das, was ist das da, beim Schlitz?
schau dir das an, schade
ich kann’s nicht lesen
aber sauschöne Schrift
chinesisch
oder japanisch
oder koreanisch
sagenhafte Schrift
eine Schriftkultur haben die!
schau mal, Made in Taiwan, Made in Italy
internationale Produktion
was meinst du, Schlitz in Taiwan?
(Gelächter)
die chinesische Mauer, mein alter Traum
oder jobben in Japan
oder ein Buddhist sein in
spottbillig das Kleid
25.90
zum Glück, ein Glückstag heute
sieht wirklich gut aus an mir
steht mir ausgezeichnet
]]>Zu Hause
Zu Hause in
Zu Hause in der Fremde
Zu Hause in der Fremde – Versuche
Zu Hause in der Fremde – Versuche zur Integration
Ein Spiel, Sätze zu zerpflücken, um ihre vielfältigen Deutungsmöglichkeiten hörbar zu machen, oder schärfer formuliert: ein hintersinniges Spiel, weil die Satzikone, im Staccato gesprochen, einstürzt und ich in ihren Trümmern alles andere als Sicherheit und Klarheit vorfinde, die der Satzfluss gerade noch suggeriert hat. Die Frage der Perspektive aber stellt sich mir unverrückbar: Von welchem Standpunkt soll ich erzählen? Soll ich überhaupt erzählen? Legt dieser subjektlose, verbfreie Titel nicht nahe, dass berichtet wird, über jene, die in einem fremden Land zu Hause sind und sich zu integrieren versuchen? Oder heisst “Versuche zur Integration”, dass man etwas über die Einheimischen erfahren wird, die sie, die Fremden, zu integrieren versuchen? Die Bedeutungs-Unschärfe oder Deutungsvielfalt des Satzes ist typisch für Sätze, die kein Subjekt und kein Verb haben, dafür gespickt sind mit Begriffen, die emotional aufgeladen sind und einander schmerzhaft bis feindlich oder zumindest etwas wehmütig gegenüberstehen wie “zu Hause” und “Fremde”.
Der Begriff “Integration” schliesslich ist genauso unscharf (wie eben die meisten Begriffe, die im politischen Diskurs in Schwung gehalten werden), der Begriff birgt aber, wie Mark Terkessidis in seinem Buch “Interkultur” treffend formuliert hat, stets eine negative Diagnose: “Es gibt Probleme, und die werden verursacht durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören. Der Ausgangspunkt ist dabei immer die Gesellschaft, wie sie sein soll, und nicht die Gesellschaft, wie sie ist.”
Lassen Sie mich also nochmals anfangen und in den Titel meines Essays meine Person und ein Verb einfügen.
“Zu Hause bin ich in der Fremde – Versuche zur Integration”, und ich beginne mit einer kleinen Geschichte.
Du bist ein Baum – woher kommst du?
Im Kindergarten hatte ich eine liebenswürdige Lehrerin: sie hat mich als Tannenbaum verkleidet, eine braune Hose, ein dunkelgrüner Filzhut für den Kopf, vermutlich hat sie auch mein Gesicht grün geschminkt, ich sollte eine Rolle haben, im Schneewittchen, und zwar als Tannenbaum, ich stand da und sah den Zwergen zu und natürlich dem schönen Schneewittchen, aber was anderes als ein Tannenbaum hätte ich sein sollen, da ich kein Deutsch, sondern “nur” Ungarisch sprach? Meine Lehrerin versuchte mich zu integrieren, ins Spiel, wie man heute sagen würde, und ich? Ich schämte mich in meinem Baumkostüm, schämte mich für meine Stummheit, dafür, dass ich bloss dastand, was in meiner Erinnerung eine Ewigkeit dauerte, aber den Unterschied hatte ich ziemlich genau begriffen, zwischen den Zwergen, dem Schneewittchen und dem Baum. Ich weiss auch nicht mehr, ob es noch andere Bäume gab; ich jedenfalls stand einen Baum, und diese kleine Geschichte, die fast schon eine lustige Anekdote geworden ist, ist meine erste Erinnerung daran, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, und ironischerweise wurde dieses Gefühl von Ausgeschlossensein von einer Lehrerin herbeigeführt, die ganz bestimmt eine gegenteilige Absicht hatte.
Ziemlich sicher hatte ich als fünfjähriges Kind nur einen brennenden Wunsch, nämlich den, so zu sein wie alle anderen; ich wollte nicht unbedingt Schneewittchen sein, aber doch ein Zwerg. Ausserdem wollte ich um nichts in der Welt die weisse, an den Ärmeln und am Kragen farbig bestickte Bluse tragen; ich wehrte mich also gegen folkloristische Kleidung, nicht nur, weil die anderen nichts derartiges trugen (und das habe ich schon im Kindergarten registriert, als das Tragen der “richtigen” und “falschen” Kleider noch nicht Teil der Hackordnung war), sondern, weil ich merkte, wie wichtig diese Staffage für meine Eltern war.
Damals hätte ich es zwar sprachlich nicht fassen können, aber trotzdem wusste ich genau, dass der Unterschied zwischen Baum und ungarischem Bauernmädchen nur ein geringer war, dass beide das Produkt waren von Bemühungen, “etwas” aus mir zu machen, das ich nicht sein wollte. Vielleicht war das der Grund, dass ich an meinem ersten Fasching in der Schweiz meine Umwelt zumindest leicht irritierte: ich verkleidete mich in eigener Regie, stopfte mir ein voluminöses Kissen unter ein langes, rotes Gewand, setzte mir eine Krone auf, verbarg mein Gesicht unter der Maske einer alten Frau, und mein Accessoire war ein Staubwedel, und auf die Frage meiner Mutter, wer ich denn sei, zuckte ich bloss mit den Schultern.
Einen ähnlichen, ausschliessenden Effekt hatten später Fragen wie “woher kommst du?”Diese Frage wurde mir meistens gestellt, wenn jemand meinen Namen geschrieben sah oder ich meinen Familiennamen nennen musste – die Frage nach dem Namen und der Herkunft sind die ersten Fragen eines Verhörs, das habe ich spätestens nach der Lektüre von Elias Canettis Masse und Macht begriffen -, und ich sah oft in erstaunte Gesichter, wenn ich verraten hatte, woher ich kam, aus Jugoslawien?
Wenn ich nun differenziert von meiner Herkunft zu erzählen anfing, dass ich nämlich aus der Vojvodina stammte und dass in diesem Gebiet, das die Kornkammer Serbiens genannt wurde, zahlreiche Volksgruppen lebten, nämlich Serben, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Rumänen, Bunjewatzen, Schokatzen, Sinti und Roma, Deutsche, Bulgaren und ausserdem Ungarn, zu deren Volksgruppe meine Familie gehörte, wenn ich nun das Stichwort “Ungarn” und “ungarische Muttersprache” geliefert habe, entspannte sich das Gesicht meines Gegenübers und in meinem Gesicht wurden die breiten Wangenknochen erkannt, in meinen Adern musste feuriges Blut fliessen, mein Gegenüber schwärmte von der Puszta, überhörte mit einer anmutigen Penetranz, dass ich weder die Puszta kannte noch die tollen Thermalbäder in Budapest, sein Ohr war taub für die Tatsache, dass das kommunistische Regime in Ungarn mit dem sozialistischen in Jugoslawien nur in beschränktem Masse vergleichbar war.
Worauf ich hinaus will: die Frage nach der Herkunft ist sehr oft ein paternalistischer Akt. Der Fragende bindet den Befragten an das Land seiner Herkunft, wobei die Differenzierung keinen Platz hat, es soll nicht zu kompliziert sein, und ein vertraut erscheinendes Stichwort ist Anlass genug, um die Bilderwand im eigenen Kopf zu bestätigen. Habe ich die Frage “woher kommst du” mit “aus Zürich, aus dem Kreis 4” beantwortet, dann wurde oft lachend nachgehakt, “ja schon, aber woher kommst du ursprünglich?”
Ursprünglich war ich in einem winzigen, weissen Haus mit Dachboden, Innenhof, Hühner- und Schweinestall, Miststock und Garten zu Hause; meine Herkunft ist an meine Grossmutter geknüpft, eng und unauflösbar, und als ich zu meinen Eltern in die Schweiz gekommen bin, habe ich nicht Jugoslawien verlassen oder Zenta, sondern meine Grossmutter, ihr Haus und ihre Lebenswelt. Das ist die korrekte Antwort auf die Frage nach meiner ursprünglichen Herkunft. So konnte ich aber erst antworten, nachdem ich meinen Roman “Tauben fliegen auf” geschrieben hatte; so klein und konkret kann man erst antworten, wenn man sich eine Sache grundsätzlich überlegt hat. Ich war, um es nochmals zu betonen, von meiner Grossmutter geprägt, von der Art, wie sie kochte, wie sie Brot abschnitt, das Wort “Haus” – “ház” bedeutete ihr Haus, ein ebenerdiges Haus mit einem grossen Korridor, in dem wir die Suppeneinlagen zum Trocknen auslegten, und zum Haus meiner Grossmutter gehörte ein Innenhof, das Wort “Haus”, also “ház”, war insofern untrennbar mit einem Innenhof verbunden (ein Haus, das sich nach innen öffnet, wie Klaus Merz es in seinem Gedicht “Grenznah” so wunderbar formuliert hat).
Wozu erzähle ich Ihnen das? Weil ich Ihnen zeigen möchte, was der Satz “zu Hause in der Fremde” für mich als kleiner Mensch bedeutete, damals, als ich noch nichts von Nationen und Grenzen wusste. Womöglich kannte ich die Wörter “Jugoslawien” und “Schweiz” bereits, aber sie hatten keine Bedeutung, sie waren leer. Sehr konkret hingegen war – neben der Erfahrung, dass ich mich eine ganze Weile nicht verständigen konnte –, dass die schweizerdeutschen Wörter nichts mit den ungarischen Wörtern zu tun hatten: das schweizerdeutsche Haus war mehrstöckig, hatte einen Vorplatz, und in den Treppenhäusern waren rote Blumen mit Blättern, die sich pelzig anfühlten, auf Fenstersimsen aufgereiht; vor allem aber war das schweizerdeutsche Haus ausgehöhlt, und diese Höhle, in der die Autos standen, wurde “Garage” genannt.
Aus heutiger Perspektive habe ich also damals die Erfahrung gemacht, dass man die Wörter nicht übersetzen kann; “ház” wurde zwar mit “Haus” übersetzt, aber das, was “ház” ausmachte, fehlte beim “Haus”. Natürlich hätte ich auch sehen und empfinden können, was “ház” und “Haus” miteinander teilten: ein Dach, die Fenster und Türen, Wohnräume. Aber die Unterschiede waren für mich offenbar bedeutender.
Lesen, Glücksdeutsch
In der Primarschule lernte ich, mithilfe eines Setzkastens, schreiben. Ich fügte die verlangten hochdeutschen Wörter zusammen, mit erstaunlicher Leichtigkeit, konnte sie aber dann nicht lesen, und meine Lehrerin stand vor einem Rätsel. Und nicht nur sie. Ich kann es mir heute noch nicht erklären, weshalb ich mit einer Verzögerung von mindestens einem halben Jahr zu lesen angefangen habe. Aber als ich es endlich konnte, habe ich gelesen, gelesen und nicht mehr aufgehört. In der Dorfbibliothek lieh ich mir die Bücher aus und fing an, mich auf Hochdeutsch mit mir zu unterhalten. Hochdeutsch gefiel mir, es war die Sprache der Bücher, und ich tauchte ein in eine gänzlich neue Welt, die nur mir gehörte. Die ungarischen Wörter mussten sich zu Hause bewähren und bewahrheiten: mit meinen Eltern und Geschwistern sprach ich Ungarisch; im Alltag ausserhalb der Familie war das Schweizerdeutsche gefragt. Hochdeutsch aber war ein offenes Feld. Es schien in meinem Kopf zu entstehen, beflügelte meine Phantasie (ein Wort wie “murmeln” beispielsweise), und dass ein Teil des Schulunterrichts auf Hochdeutsch abgehalten wurde, störte mich nicht, im Gegenteil: ich fühlte die Scham meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, Hochdeutsch zu sprechen. Intuitiv merkte ich wahrscheinlich, dass sie jetzt eine neue Sprache lernten, eine Erfahrung, die ich schon hinter mir hatte.
Hochdeutsch war demzufolge mein grosses Glück, in dieser Sprache konnte ich nochmals neu anfangen, und ich vermute, dass ich in dieser Zeit, während der zweiten oder dritten Klasse, auch die Gemeinsamkeiten der Sprachen empfinden konnte.
Zwischenstopp: der Satz “zu Hause bin ich in der Fremde” hat zunächst einmal nichts mit mir zu tun, sondern mit den anderen, die mich als Fremde haben wollen. Der Versuch, anzukommen, da zu sein, wo man ist, wird mit der ständigen Rückbindung an das Land, das man verlassen hat, erschwert. Die Erzählung, dass man gar nicht an ein Land gebunden ist, sondern an eine Person und deren Lebenswelt, ist eine Realität, die dem Mythos des Volkes und der Nation nicht dienlich ist, aber zumindest der Wirklichkeit meiner Geschichte nahe kommt. Als ich in die Schweiz kam, hatte ich meine Lebenswirklichkeit verloren, und wichtiger, integraler Bestandteil dieses Verlustes war jener der ungarischen Sprache. Von einem stummen Kind verwandelte ich mich dann in ein lesendes, das Erlernen des Hochdeutschen, der Sprache der Bücher, war ein wichtiger Einschnitt in meinem Leben: ich hatte eine Sprache gefunden, die mich beflügelte. Und wahrscheinlich war das Hochdeutsche dafür verantwortlich, dass ich anfing, mich zu Hause zu fühlen.
Alice im Wunderland
Von der vierten bis zur sechsten Primarschule hatte ich einen Lehrer, dessen Lieblingsspiel das folgende war: er stellte eine Rechenaufgabe. Wenn man die Lösung nicht wusste, musste man aufstehen, wenn man die Lösung beim zweiten Mal auch nicht wusste, musste man sich auf den Stuhl stellen und schliesslich, beim dritten Mal, auf den Tisch. Es waren immer dieselben Schüler, die am Schluss auf dem Tisch standen, schämt euch, sagte der Lehrer. Manchmal schlug er auch zu. Der Lehrer hatte einen guten Ruf, er galt als “streng”, und ich hatte Glück, weil ich seine nach rechts drängende Schrift fast perfekt imitieren konnte – es machte ihn rasend, wenn man anders schrieb als er – und weil ich zu den Besten der Klasse gehörte. Der Lehrer riet meinen Eltern trotzdem, mich nicht aufs Gymnasium zu schicken, ich sei noch zu klein, so argumentierte er. Ich war tatsächlich die Kleinste der Klasse. Die Schülerinnen und Schüler, die seiner Meinung nach reif genug waren fürs Gymnasium, stammten alle aus reichem Haus, und der Lehrer bereitete sie in Extrastunden auf die Übertrittsprüfung vor. Für mich war dennoch klar, dass ich die Prüfung wenigstens versuchen wollte, und ich traf mich zum Lernen mit einer Schulfreundin – übrigens die Grösste der Klasse –, welche vom Lehrer auch nicht für förderungswürdig gehalten wurde; sie hatte ein hohles Kreuz, so wie er, und ihre Mutter war geschieden, eine Tatsache, auf die der Lehrer in Schulstunden immer wieder hinwies.
Als ich irgendwann später eine Stelle aus “Alice im Wunderland” las, kam es mir so vor, als würde mir jemand in wenigen Sätzen erklären, was die Essenz dieser drei Schuljahre gewesen war: “Wenn ich ein Wort verwende”, sagte Humpty-Dumpty, ziemlich von oben herab, “dann hat es genau die Bedeutung, die ich ihm gebe. Nicht mehr und nicht weniger.” “Die Frage ist nur”, sagte Alice, “ob du Wörtern die Bedeutung von so vielen verschiedenen Dingen geben kannst.” “Die Frage ist”, sagte Humpty-Dumpty, “wer der Herr sein soll. Das ist alles.”
Warum sind Kinder ausländischer Familien an Gymnasien immer noch eine Seltenheit? Die Einwanderer kümmerten sich nicht um die Bildungschancen ihrer Kinder, so heisst eine gängige Antwort. Gerade die Familien, die kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, glaubten am stärksten daran, dass Begabung und Tüchtigkeit die einzig Ausschlag gebenden Faktoren für den Schulerfolg seien, schreibt der Soziologe Pierre Bourdieu – was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass in der Institution Schule immer noch zahlreiche Ausgrenzungen stattfinden. Kinder, die sprachliche Schwierigkeiten haben, werden gerade von Lehrpersonen, die mit Mehrsprachigkeit keine Erfahrungen haben, oft als dumm und unbegabt abgestempelt – und manche Lehrer scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass jedes Fach sprachlich vermittelt wird. Eltern, die in der Gesellschaft privilegierte Positionen haben, treten gegenüber einer Lehrperson selbstbewusst auf, wogegen nichts einzuwenden ist, ausser, wenn es die Lehrperson derart beeinflusst, dass sie das betreffende Kind in der Folge anders behandelt.
Obwohl ich nicht zur richtigen und wichtigen Schicht gehörte, wurde aus mir eine Gymnasiastin, und zwar eine, die sich mittlerweile darüber im Klaren zu sein schien, dass sie “von woanders” herkam, und meine beste Freundin war Griechin. Nach der Matura würden wir beide in unsere Heimat zurückkehren; meine Freundin hatte sich in Griechenland verliebt, sie würde also einen Griechen heiraten und mit ihm, wie sie mir versicherte, mindestens fünf Kinder haben. Mein damaliger Freund war ein Schweizer, ein Adoptivkind aus Sizilien, was mich aber nicht weiter beschäftigte. Ob nun mit ihm oder ohne ihn: ich würde mit achtzehn in die Vojvodina zurückkehren und meiner Freundin Briefe schreiben. Wir hatten etwas vor, das sich von den Plänen unserer Mitschüler fundamental unterschied, die nämlich wollten in die Welt hinaus, um beruflich weiterzukommen. Wir wollten zurück in die Welt unserer Kindheit, und wenn uns jemand gefragt hätte, was wir denn da tun würden, hätten wir vermutlich geantwortet: leben.
Diese nebulöse Vorstellung vom anderen Leben; sie war plötzlich da und bei mir vielleicht nur deshalb, weil ich meine Eltern damit irritieren konnte. Auf die Art und Weise gab ich ihnen nämlich zu verstehen, dass ich ihren damaligen Entschluss, aus Jugoslawien auszuwandern, zumindest in Frage stellte; hätten sie zu jenen Ausländern gehört, die als “Gastarbeiter” nur darauf hin arbeiteten, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, wären sie vermutlich stolz auf meinen Plan gewesen.
Nun könnte der Eindruck entstanden sein, dass meine Freundin und ich uns als Exotinnen stilisierten. So war es aber nicht, im Gegenteil: wir fügten uns unauffällig ins Klassengefüge, waren beliebt, gehörten bei Gruppenspielen zu den erstgewählten, wir lasen Kafka und waren fix, wenn es darum ging, die Zunge an angesagte Wörter zu gewöhnen wie “fuck”, “geil”, “Stresschopf”, und manchmal war es meine Freundin oder ich, die ein neues Wort auf die Umlaufbahn schickte, “ist das nicht mad?”, sagte die eine und die andere setzte die richtige Miene auf, “doch, das ist absolut mad!”
Nur wenn wir zu zweit waren, änderten sich unsere Themen: wir assen zwar gefüllte Weinblätter oder gefüllte Paprika und träumten uns in unsere Heimatländer, aber viel wichtiger war, dass aus uns eine Art Selbsthilfegruppe im Kleinstformat wurde, das heisst, wir beratschlagten uns sehr konkret über unsere Alltagsprobleme: beispielsweise über die Schwierigkeit, mit unseren Eltern zu streiten, da die gemeinsame Sprache fehlte; über banale, rassistische Äusserungen tauschten wir uns aus; über unsere Funktion als Übersetzerinnen, wenn es um amtliche Briefe ging, die an unsere Eltern gerichtet waren und die auch für uns schwer verständlich waren etc. etc.
Allein dieser Austausch wies schon darauf hin, dass wir mitten drin steckten, in unserem Leben in der Schweiz nämlich, und so wurden wir achtzehn, und es geschah nichts weiter, ausser dass wir uns an der Zürcher Universität einschrieben, an der Philosophischen Fakultät I.
Sprachexplosionen – sich absetzen vom Vertrauten
Plötzlich tauchte das Schreiben auf. Ich hielt mich damals, gerade fünfundzwanzig geworden, in Graz auf, hatte ein Forschungsstipendium am Franz Nabl Literaturinstitut. Es war Hochsommer und ich einsam; die Stadt, vor allem aber das Institut, wirkten auf mich wie ausgestorben. An einem Nachmittag lag ich rücklings im Freibad, gab mich in schläfriger Aufmerksamkeit meiner Umgebung hin. Dann ereignete sich das, was man den Stein des Anstosses nennen könnte: Ein kleiner Junge schubste mich, sprach mich ganz selbstverständlich an, komm schon, wir tauchen! Ich war ziemlich irritiert, ich kannte den Jungen ja nicht, niemanden, wochenlang hatte ich nur mit der Wurstverkäuferin ein paar Worte gewechselt. Doch bevor ich lange nachdenken konnte, war der Junge ins Wasser gesprungen, spritzte in meine Richtung, in seinen Augen war so viel Lebendigkeit, dass ich mich unmöglich weigern konnte. Am gleichen Abend schrieb ich wie von selbst ein paar Zeilen auf, berührt von dieser Kinderseele, die mich eingeladen hatte, an ihrer Welt teilzuhaben.
Während meinen Lizentiatsprüfungen, vier Jahre später, packte mich dann eine fiebrige Schreiblust, aus Wut über die schulisch-bieder abgehaltenen Prüfungen und die Noten, die plötzlich wieder verteilt wurden: ich wachte auf, hatte Wörter auf der Zunge wie “Glücksschere”, ich stand auf, schrieb kurze Geschichten, eine mit dem Titel “der Mann ohne Hals”. Ich verballhornte wissenschaftliche Begriffe; im Namen des “Fluchtforschers Paul Plan” und der “Stabilitätstheoretikerin Nana Wennschon” schrieb ich den Prüfungsexperten und Professoren einen Brief, in dem ich die Qualität der jeweiligen Prüfungssituation einer grotesk-surrealen Bewertung unterzog, was mir bei einem telegenen Professor den Titel “Miesmacherin” eintrug. Ich jedenfalls fühlte mich mit meinen Sprachexperimenten als Solo-Aktivistin, ich wollte mich absetzen von Floskeln, Sprachschablonen und schulte mein Ohr für alle Zwischentöne des gesellschaftlich etablierten Kulturschutts. Bei der Besprechung meiner Lizentiatsarbeit sagte mir Herbert Gamper, einer der wenigen, die ich an der Uni respektierte, dass meine Arbeit keine wissenschaftliche sei, ich solle schreiben, meine Lizentiatsarbeit sei in weiten Teilen literarisch geschrieben.
Fremd gehen – mit der Sprache
Die Frage nach meiner Herkunft habe ich in jüngster Vergangenheit mit “eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt”, beantwortet. Diese Bezeichnung ist so präzise, dass sie in Bezug auf nationalstaatliche Einengungen unüberhörbar ironisch ist, sprachlich jedoch ist sie ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit und, um noch ein bisschen weiter zu gehen, ein Bekenntnis zur Vielstimmigkeit, die ich in meinem letzten Roman herauszuarbeiten versucht habe.
Mit Leidenschaft habe ich ungarische Redewendungen ins Deutsche übertragen. Schlechte Laune haben heisst dann, der Tag muss heute ohne mich auskommen, oder: heute habe ich die Laune eines alten Hundes.
Bei Marieluise Fleissers Prosa war von bayrischer Diktion die Rede, mir würde gefallen, wenn man, in Analogie dazu, bei meiner Prosa von Jugo-Diktion und finno-ugrischer Diktion, von mehrsprachiger Polyphonie spräche; mir ist daran gelegen, dass man meine Figuren hört, wie sie sprechen, egal, wo sie herkommen. Es scheint mir nichts als logisch zu sein, dass ich als Dichterin den Leuten auf Maul schaue, und ich freue mich, wenn ich spitzmäulige Münder sehe, die “Chrüsimüsi” sagen oder “chrümschele”. Ich habe auch keinen Schweissausbruch allein wegen der Tatsache, dass man im Hochdeutschen “Gemüse putzen” und nicht “Gemüse rüsten” sagt. Wegen meinem österreichischen Verlag haben sich sogar ein paar österreichische Wendungen in meinen Text geschlichen: die Toilette ist “angeschissen” und nicht “verschissen”, und dies allein aus dem Grund, weil mir die “österreichische Art” diese Tatsache auszudrücken, plastischer und insofern besser erschien.
Trotz meinem Interesse am mündlichen Ausdruck, an der Figurenrede, habe ich eine Kunstsprache kreiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich nicht weiss, wie ich das Stammeln, mehrfach abgebrochene Sätze, und vor allem das Schweigen und rollende Augen aufs Papier bringen soll.
Als Kunstsprachliebende klopfe ich nun Wörter ab – warum sollen Begriffe wie “Balkankrieg” fraglos existieren, als gehörte Balkan und Krieg fast schon auf eine natürliche Art zusammen. Ich schreibe Sätze wie “ich ärgere mich, über sie, die ich bin”, und man könnte schlussfolgern, dass ich mit dieser Art von Sprachbewegung einen Entfremdungsprozess auf den Punkt bringe.
Es liegt also auf der Hand, dass mich Begriffe wie “Helvetismus”, “Austriazismus” etc. mehr als irritieren. Ich habe nämlich kein Sprachideal (ausser vielleicht, dass es schön ist, beglückend, wenn Sprache, das Sprechen, hartnäckiges Schweigen durchbricht). Ich bin zugegebenermassen mehr als vorsichtig, wenn man eine sprachliche Klassengesellschaft herstellen möchte – immer noch! –, ich habe nichts übrig für eine deutsche Sprachleitkultur, ich liebe, wie schon gesagt, Färbungen, Tonalitäten. Dein Deutsch klingt wie Ungarisch und untergründig höre ich eine schweizerdeutsche Melodie, sagte meine Schwester über mein Schreiben, und das habe ich als Kompliment verstanden.
Migration, Fremdsein, Anpassung, Integration – das sind alles Begriffe, die ich in meinem Text gar nicht oder nie unkommentiert gebraucht habe. In der Rezeption des Romans tauchen sie sehr häufig auf.
Zum Abschluss: der Stuhl sieht uns
Ich plädiere nicht nur für eine sprachliche Polyphonie, sondern auch für eine Gesellschaft, die deren Vielfalt anerkennt. Ich distanziere mich vom Begriff “Integration” und von altbackenen Integrationskonzepten, die eine Anpassungsleistung der ausländischen Bevölkerung an die einheimische verlangen; die defizitär abgestempelten Ausländer sollen Sprachkurse besuchen, sich schulen im Wissen um “einheimische Werte”. Hierbei ist natürlich unklar, wo gerade der perfekte Durchschnittsdeutsche rumspaziert, der dem patriarchalen, ausländischen Vater zum idealen Vorbild gereicht. Migrationskinder sind per definitionem prügelnde Jungs oder passive, Kopftuch tragende Mädchen, wenn sie nicht bilinguale Kinder sind, die “unsere Gesellschaft” bereichern, wie neulich eine Schweizer Wochenzeitung titelte und damit einmal mehr, auch wenn es positiv gemeint war, die Differenz zwischen einem “wir” und den “anderen” festgeschrieben hat. “Unsere Gesellschaft” existiert nicht und hat noch nie existiert, davon gehe ich aus, und dass in der Schweiz, einem international verflochtenen Kleinstaat, eine straff organisierte, Ressentiments schürende Truppe den Ton angibt, Ressentiments gegen die Ausländer schürt (jüngstes, sprechendes Beispiel: die “Ausschaffungsinitiative”) und dabei demokratische Grundwerte aushöhlt – das ist alles andere als beruhigend, und dabei ist die Schweiz nur ein Beispiel für die gegenwärtigen Ideologen, die rückwärts in die Zukunft rennen wollen.
Lese ich den Satz “zu Hause in der Fremde” schliesslich nochmals, mit einer kleinen Pause, dann wird dem “zu Hause” umgehend das “Fremde” nahe gelegt, benachbart: das eigene zu Hause wird ein fremder Ort. Ist das möglich, denkbar, nachdem man doch alle Möbel kennt, die Küchengeräte, die Menschen, die im eigenen zu Hause ein- und ausgehen. Kennt man sich selber, in den eigenen vier Wänden, wie man so schön sagt, kennt man sich selber, wie man den Besen schwingt, ein Ei aufschlägt, spürt man seine Beine jeden Tag gleich an dem Ort, den man so gut zu kennen scheint?
Und wenn ich mit meinem kleinen Sohn durchs dunkle Schlafzimmer husche und er zu mir sagt: Komm Mami, schnell, der Stuhl sieht uns!, dann lache ich spontan, bin im zweiten Moment irritiert über die vollkommene Selbstverständlichkeit, mit der mein Kind dem Stuhl zutraut, uns zu sehen, doch drittens führt es mich ganz nahe zu dem, was eben in diesem Halbsatz, “zu Hause in der Fremde”, mit einer kleinen Pause gesprochen, drin steckt, nämlich zur Möglichkeit, dass man sich in der eigenen Wohngegend nicht mehr auskennt –, Kinder führen uns sehr ernsthaft und verspielt in einem die eigene Wohnung neu vor, in der alles beseelt erscheint, die Verben springen über, bevölkern nicht mehr nur das Reservat des Menschen: der Stuhl sieht, das Fenster schläft, der Wasserhahn weint, die Lampe lämpelt (Verben werden pausenlos generiert, um dieses komplexe Gebiet zu benennen), die Luft stellt alle Werkzeuge bereit, die fürs hingebungsvolle Spiel notwendig sind, eine imaginäre Linie auf dem Holzboden markiert die Grenze zwischen Strand und Meer etc. etc.
Natürlich, es ist eine Reise, auf die mich der kleine Mensch wieder einmal mitnimmt, die Einladung, die Dinge neu zu entdecken, sie von der Last des Vertrauten zu befreien, und ganz unerwartet bin ich damit bei der Etymologie des Wortes “fremd” angekommen: fremd ist eine Adjektivbildung zum Germanischen fram-, und bedeutet “fern von”, “weg von”, heute noch präsent im Englischen “from”. Durch die Etymologie des Wortes “fremd” wird einsehbar, dass nur die erste Bedeutung “fern von” konkrete, geografische Orte impliziert, nicht aber “weg von”, das in meinem Verständnis eine Bewegung zum Ausdruck bringt. Nicht “abweichend vom Vertrauten”, sondern “weg vom Vertrauten” heisst “fremd” also ohne die moralische Wertung. “Weg vom Vertrauten” – eine Bewegung, die ich beim Schreiben als elementar empfinde, um überhaupt ein anderes Seelengebiet als das eigene zu erkunden; mit der Sprache gehe ich fremd, um die Vielstimmigkeit der Figuren hörbar zu machen.
In: Sprache im Technischen Zeitalter. Hg. v. Norbert Miller und Joachim Sartorius . Heft Nr. 198. Juni 2011.
]]>Die Atmosphäre meiner Kindheit.
2. GLAUBEN SIE, DASS EIN MENSCH MEHRERE HEIMATEN HABEN KANN?
Da mein Begriff von Heimat für eine kollektive Mystifizierung nicht taugt, muss ich ihn auch nicht pluralisieren, um der einseitigen, national-territorialen Auslegung des Begriffs zu entgehen. Heimat ist singulär, einzelmenschlich, meine Heimat.
3. KANN MAN AUS EINER HEIMAT WEGGEHEN UND SIE TROTZDEM IN SICH TRAGEN?
Ich habe mein Heimatland verlassen. Meine Heimat suche ich immer wieder auf, bemühe mich um sie, im Schreiben und in der Musik. Ich trage die unermüdliche Sehnsucht nach Verständigung in mir.
4. WELCHE DINGE, GERÜCHE, KLÄNGE ETC. VERBINDEN SIE SELBER MIT DEM BEGRIFF HEIMAT?
Den weichen Singsang meiner Grossmutter, das nächtliche Gequake der Frösche, die Schweine, wenn sie aus ihren Schweinchenaugen blinzeln, das aufgeregte Gegacker eines Huhnes, bevor es geschlachtet wird. Die Nachtviolen, die Aprikosenrosen. Derbe Flüche. Die unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten Zwiebeln. Meinen strengen Onkel, der plötzlich aufsteht und tanzt…
5. GIBT ES EINE HEIMAT, DIE SIE SICH WÜNSCHEN WÜRDEN?
Meine Utopie ist einfach und konkret: in meiner zukünftigen Heimat soll es Luft und Wasser geben, damit alles weitere weiterhin möglich bleibt.
6. SIND SIE IN DER SCHWEIZ ZUHAUSE ODER EHER DAHEIM?
Ich lebe in der Schweiz, mit einem Teil meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden. Wir sind, wie man heute so schön abschätzig sagt, eine richtige Multi Kulti Gemeinschaft.
7. “HOME IS WHERE THE HEART IS” SAGT MAN IM ENGLISCHEN. STIMMEN SIE DEM ZU?
Ich habe mein Herz nicht verloren. Sun Ra hat den Satz Space is the Place geprägt und für das vorliegende Thema lege ich ihn so aus: das Universum bietet genügend Platz, die Heimat jedes Einzelnen zu sein.
©interview with Melinda Nadj Abonji, 2009, never published.
]]>Der ästhetische und der ethische Standpunkt sind zwei Gesichter, zwei Aussagen, zwei Formen der gleichen Macht, der gleichen Kompetenz: Das ist, in der Sprache Kants, die Macht des interesselosen Urteils. Was haben Gewissen, Denken, Wissenschaft und Kunst gemeinsam? Im Gewissen, im Denken, in der Wissenschaft und in der Kunst gibt es kein Interesse und keine Kompromisse, auch keine erhabenen, nationalen, heiligen oder sonstigen. Für alles gilt: Entweder ist es unbedingt, oder es ist nicht. Entweder ist es kompromisslos und interesselos, oder es ist nicht. Es nimmt, Gott sei es gedankt, keinerlei Rücksicht auf Zugehörigkeit, Interesse, Bedürfnisse, Verwandtschaft, Heimat… Sowohl dem Gewissen, als auch dem richtigen Schlussfolgern, als auch wissenschaftlichen Tatsachen, und Kunstwerken wohnt eine unabhängige, unbestechliche Gesetzmäßigkeit inne. Entweder ist diese Gesetzmäßigkeit am Werk, oder sie ist es nicht – Nachahmungen, gute Absichten, lärmende Rhetorik und höhere Interessen gelten hier nicht – entweder es gibt ein Gewissen, oder es gibt keines, entweder es gibt Logik und Wahrheit, oder es gibt keine, entweder es gibt die Kunst, oder es gibt sie nicht.
Sreten Ugričić, Elf Thesen über Bach. In: Briefe aus Belgrad, hg. v. Annemarie Türk. Wien 2011, S. 93-130.
]]>
Words by Sreten, voice Melinda Nadj Abonji, music Balts Nill.
“A warning to the police from a library terrorist: in the hall of the CCB there will be an explosion – not of a bomb, but of all of us present. And we shall win. Because, as you know: whoever attacks writers with a nightstick is defeated and hated from the start; while the one who reads – wins!”
]]>Hommage to Theo Angelopoulos, Bäume im Nebel
]]>„Ich erwarte nicht von Dir, dass Du das verstehst was ich mit meinen Filmen meine. Ich erwarte von Dir, dass Du das verstehst, was Deine Seele aus diesen Filmen versteht. Es ist eben wie Dichtung.“
— Theo Angelopoulos
]]>beautiful picture
]]>
Este galapaguito no tiene mare. (This turtle has got no sea).
Rehearsal note by Balts Nill & Melinda Nadj Abonji, based on a text by Federico García Lorca.
Dedicated to Sreten.
]]>Sreten Ugričić: An den unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić). Dittrich Verlag, Berlin 2011.
]]>István Vörös: Die leere Grapefruit. Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse.
Edition Korrespondenzen. Wien 2004.
amputated tree’s II
]]>amputated tree’s
]]>the wall in sunlight
]]>wall
]]>Melinda Nadj Abonji
]]>Jurczok 1001, 28.12.2011 at Melinda’s Werkstatt
]]>home sweet home
]]>Ornice, Lika, Hrvatska
VATER
Ich weiss nicht, weshalb ich das gesagt habe. Ich wollte niemanden erschrecken und es war mir nicht ums Scherzen. Vielleicht ist damals der schwarze Humor in mir durchgegangen, den mir die Familie meines Vaters vererbt hat: sie scherzen, wenn sie eigentlich am liebsten weinen würden. Es war an der Streetparade 1995. In den Radionachrichten hatte ich am Vorabend von der Offensive der kroatischen Armee in der „Krajina“ gehört. Ich erfuhr, dass Serben gezielt aus dem Land vertrieben wurden. 150 000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und waren in diesen Tagen unterwegs, viele zu Fuss. Ich stand am Bellevue und beobachtete die tanzenden Menschen auf der Strasse. Es dürften etwa gleich viele gewesen sein. Sie lachten und schrieen vor Freude. Eine absurde Situation. Ich verspürte einen immer stärker werdenden Drang, mich mitzuteilen. Neben mir stand ein holländisches Fernsehteam, zu ihnen ging ich hin. „In Kroatien ist im Moment auch eine Streetparade im Gange“, sagte ich. „Da solltet ihr mit euren Kameras hingehen.“ Die Holländer waren ganz erstaunt. Wo ist das denn genau? Welche Musik wird da gespielt? Wie viele Love-Mobiles? Ich hab sie dann aufgeklärt. Niemand hat darauf mehr etwas gesagt. Alle waren wie versteinert.
Ornice ist eines jener Dörfer im Hinterland der kroatischen Meeresküste, die ausschliesslich von Serben bewohnt waren. Auch aus Ornice wurden während der kroatisch-serbischen Auseinandersetzungen alle Einwohner vertrieben, das Dorf wurde anschliessend dem Erdboden gleich gemacht. Meine Grossmutter hatte in Ornice gelebt. Vater war bereits als junger Mann nach Zagreb gezogen, um zu studieren. Hier hatte er sich in eine Mitstudentin verliebt und diese später geheiratet. Das war meine Mutter, eine Kroatin. Für die Sommerferien brachten mich meine Eltern nach Ornice. Im Dorf gab es ungefähr fünfundzwanzig Häuser, kein Restaurant, keinen Laden. Alle lebten von der Landwirtschaft. Grossmutter besass ein grosses Stück Land, rund zehn Hektaren. Sie hatte zwei Arbeitspferde, Mischko und Zora, und ungefähr fünf Kühe. Jeden Sommer kam ein Kälbchen zur Welt, manchmal waren es auch zwei. Grossmutter besass auch Schweine, drei bis fünf, und viele Hühner. Ich streunte mit Cousin Milan den ganzen Tag in der Gegend umher oder wir schwammen im Fluss. Ab und zu brachten wir auch die Kühe meines Onkels Jovan in aller Frühe an ein Plätzchen, wo sie frisches Gras fressen konnten und hüteten sie den Vormittag über. Mittags assen wir bei Grossmutter in der Küche: Polenta oder Speck mit Brot und Zwiebeln und ein Glas Milch. Tagsüber winkte mich Grossmutter immer wieder zu sich und steckte mir etwas zu, Nüsse oder Äpfel. Und jeden Sommer bekam ich hundert Deutschmark. Milan kannte die schönsten Plätze in der Umgebung. Einmal machten wir einen langen Spaziergang zu einer Waldlichtung. Im Stehen sah man nichts Besonderes. Milan legte sich auf den Boden und deutete unter die grünen Blätter. Hier war alles rot, ein dicker roter Teppich aus Walderdbeeren. Wir blieben eine Stunde lang so liegen und schlugen uns die Bäuche voll. Ich habe mein Leben lang nie mehr so süsse Erdbeeren gegessen. Gegen Ende des Sommers holten mich meine Eltern in Ornice ab. Zu dritt fuhren wir jeweils noch zwei Wochen ans Meer. Mit dem Geld meiner Grossmutter konnte ich mir am Strand so viel Eiscreme kaufen, wie ich wollte. Es war eine glückliche Zeit, als ich ein Kind war in Jugoslawien. „Bratstvo i jedinstvo“ hatte man uns gelehrt: Brüderlichkeit und Einigkeit. So fühlten wir auch. Damals spürte mein Vater nicht, dass er anders war als die anderen, als Serbe in Kroatien. Ich erinnere mich, als ich sechzehn Jahre war, sagte mein Vater noch: Ich glaube, es wird nie mehr Krieg geben.
aufgezeichnet von Sabina Brunnschweiler
]]>there was a house on the hill near the village and the gypsy family used to live there.
]]>