Das Leben ist Ausland

Melinda Nadj Abonji im Gespräch mit Sreten Ugričić

Sreten Ugričić, Philosoph, Bibliothekar, Autor von neun Büchern und gegenwärtiger Stipendiat an der Stanford Universität, arbeitet an einem einmaligen Projekt über Kunst, die sich selbst suspendiert. In Umkehrung von Marcel Duchamps „Readymade“, nennt Ugričić sein Vorhaben „Meadyrade“:
Was geschieht mit der Kunst, wenn sie von einer unwirtlichen, kranken, korrupten und bankrotten Imagination umgeben ist? Unter diesen Umständen tut die Kunst das Bestmögliche: sie bringt sich selbst zum Verschwinden – so Ugričić.

SAMSTAG 14. JUNI, 18 UHR, THEATER BASEL

DAS LEBEN IST AUSLAND präsentiert KROKODIL

Gäste: Vladimir Arsenijević, Daša Drndić, Sreten
Moderation: Melinda Nadj Abonji, Goran Potkonjak
Musik: Jurczok 1001
Gaumenfreude: Dario DeNicola

Der Verein KROKODIL und sein gleichnamiges regionales Literaturfestival wurden 2009 gegründet. Das erklärte Hauptziel von KROKODIL war und ist es, die Verbundenheit und den Austausch zwischen den Kulturen unterschiedlicher Länder zu fördern – gerade auch wegen dem gewaltsamen Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens in Nationalstaaten.

Mittlerweile hat KROKODIL mit seinem eigenwilligen Festivalkonzept und der Versammlung der spannendsten literarischen Stimmen in Exjugoslawien Kultstatus erlangt: Autoren und Autorinnen lesen in ihrer Originalsprache aus ihren Texten, die Übersetzung wird auf eine Leinwand projiziert. Zu den Texten werden Bilder gezeigt, die Künstler und VJs konzipiert und ausgewählt haben.

Im Centopassi werden Sie die Gelegenheit haben, die genaueren Hintergründe zu erfahren, warum KROKODIL gegründet wurde und in welchem kulturpolitischen Umfeld das Festival und der Verein sich heute bewegen. Darüberhinaus lesen Daša Drndić, Vladimir Arsenijević und Sreten aus ihren Texten; der Lyriker und Musiker Jurczok 1001 wird live intervenieren.

WELCOME KROKODIL!
Wir freuen uns auf Sie, auf Euch!

27. Oktober, 19 Uhr im Cento Passi, Stauffacherstrasse 119, hundert Schritte vom Helvetiaplatz entfernt.
Eintritt: 20.- CHF, mit Legi 15.-CHF

https://www.youtube.com/watch?v=oC5JBxuNfKs
https://www.youtube.com/watch?v=OtjWUD2m0F8
http://www.krokodil.rs

DIE WORTE IN DER REVOLUTION. Von Sreten

(Ausschnitt aus „Revolution und Kommentare“)

Worte sind nicht Worte. Die Worte schweigen. Die Worte sehen und wissen. Die Worte glauben niemandem. Die Worte leben in Verzweiflung, ohne Trost. Jedes Wort ist wichtig. Jedes Wort wächst wie ein Kind heran und lernt. Manche Worte lernen es, manche nicht. Worte sind nicht Worte. Die Worte schweigen. Die Worte überschreiten nicht die Grenzen der Worte. Die Worte sind unmöglich. Die Worte haben keine Stütze und halten uns dennoch fest in der Falle gefangen. Die Worte sind aus der Mode gekommen. Aber wir dürfen uns nicht täuschen. Ohne Worte gäbe es keine Zeit. Ohne Worte gäbe es keine Revolution. Ohne Worte ist es leicht. Die Worte schweigen. Worte sind nicht Worte. Das sind keine Worte.

ANTI UTOPIE – UTOPIE

Lesung und Performance von
Sreten Ugričić, Melinda Nadj Abonji und Balts Nill
DONNERSTAG, 7. MÄRZ 2013, 19 Uhr 30
LITERATURHAUS ZÜRICH
Limmatquai 62
8001 Zürich
www.literaturhaus.ch
Sreten stellt seinen neuen Essay „Ähnlichkeit“ vor, den man nicht anders als bahnbrechend bezeichnen kann. Melinda Nadj Abonji und Balts Nill haben einige Texte von Sreten interpretiert. Hören Sie selbst, was das für Perlen sind.
Lesung und Performance finden auf Serbisch, Englisch und Deutsch statt, die Diskussion um Sretens Texte auf Englisch mit deutscher Übersetzung.


Melinda Nadj Abonji & Sreten Ugričić, 22.5.2012 © Goran Potkonjak

 

DIE BESTE ALLER WELTEN? Von SRETEN

Ich tauche aus dem Wasser auf und schwimme Richtung Strand unterhalb des Casinotheaters. Ich gehe hinüber zur Seilbahn und fahre auf die Spitze des Zugerbergs. Im Schwarm mit jungen Paraglidern stosse ich mich ab, mitten in die durchsichtigen Weiten über dem See. Wir kreisen über Zug in der Abenddämmerung. 5000 Meter über uns schneiden Jagdflugzeuge der Schweizer Luftabwehr mit Überschallgeschwindigkeit und in perfekter Deltaformation den Himmel in Stücke. Die kokainweissen Linien von gefrorenem, verbranntem Kerosin verschwinden nach wenigen Augenblicken wieder, hinterlassen keine Narben am Schweizer Himmel. Darüber ist nur noch eine Wirklichkeitsebene – Gott, der Allmächtige. Die Schweizer Bundesverfassung beginnt mit der gleichen Präambel wie die iranische Verfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“

Zug ist stolz auf sein offizielles Zertifikat für den schönsten Sonnenuntergang Europas. Trotzdem, schauen wir genauer hin. Der Kanton Zug hat den niedrigsten Steuerfuss der Schweiz, das wissen alle. Wie die hiesige Verfassung beginnt, wissen hingegen nur wenige.

Über diese Kluft denke ich nach, während ich über Zug gleite: den unfassbaren Zusammenhang zwischen dem Allmächtigen, der in den Himmeln über allem thront und dem niedrigsten Steuersatz, der unten auf der Erde alles vergoldet. Wegen dieser Kluft leben und bezahlen hier, im Städtchen mit 20‘000 Einwohnern, Angehörige von über 180 Nationalitäten aus aller Welt die tiefsten Steuern der Schweiz. Wo sonst gibt es eine so kleine Stadt mit einer so grossen Anzahl von Maseratis, Ferraris, Bentleys, Porsches, Lexus‘, Aston Martins, Lamborghinis….. Und nun lebe auch ich seit über drei Monaten in Zug. Ich spaziere, schwimme, träume, schwebe, schaue um mich, berühre, höre, aber ich kann es nicht glauben.

Für mich ist der Kanton Zug der exotischste Ort der Welt. Die Exotik von Dschibuti, Myanmar, Sumatra, des Feuerlands, der mongolischen Steppen, der Bahamas, von Tasmanien, Gabun, Togo – all das ist interessant und ungewöhnlich, vielleicht auch mystisch, kommt aber dem Unwirklichen und Unmöglichen, das der Alltag in Zug verkörpert, nicht einmal ansatzweise nahe. Ich bewundere die Art und Weise, wie hier alles funktioniert, bewundere den Anstand und die Rationalität, die Präzision, die Zuverlässigkeit und Unaufdringlichkeit – mit einem Wort, die Perfektion. Für jemanden wie mich, der herkommt, wo er herkommt, und der weder weiss, was er soll, noch wohin er soll – für jemanden wie mich ist diese Perfektion unwirklich, unbegreiflich.

Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist das möglich? Dass alles rational, funktional ist, dass alles seinen Grund hat, alles abgemessen, alles erneuert und herausgeputzt, alles glatt und ordentlich ist, dass alles angemessen, alles korrekt ist, dass alles sicher, beruhigend, vorhersehbar, nützlich, bequem ist, dass alles intelligent, dass alles das Beste seiner Art und natürlich das Teuerste der Welt ist.

Alles glänzt in Zug und alles ist pünktlich und alles ist voller Respekt und alles ist zum Greifen nahe. Alles ist da, ausser Minarette. Jeder Kirchturm, jeder Grashalm scheint an seinem Platz zu sein, und jede Kirsche scheint saftig und jede Treppenstufe scheint ganz und jedes Hindernis scheint überwunden und jedes Missverständnis scheint im Voraus ausgeräumt zu sein …. Die Vollkommenheit und die Beständigkeit der Wirklichkeit gewordenen Utopie.

Grosses Geld, ein niedriger Steuerfuss. Eine grosse Illusion, eine kleine Chance, egal, für welche Veränderung. Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist Zug möglich? Weil die Schweiz möglich ist. Wie ist die Schweiz möglich? Weil unter anderem das Bankgeheimnis möglich ist. Aber über Zug schweben ist nicht die günstigste Position, um darüber nachzudenken, was das verfassungsmässig garantierte Bankgeheimnis versteckt. Wenn er Gott herausfordert, hat ein Paraglider minimale Chancen. Die Schweiz ist möglich, weil die gesamte Geschichte Europas möglich ist. Das, was die Schweiz für den Rest Westeuropas ist, ist Zug für den Rest der Schweiz. Ist mehr möglich als das? Kaum. Heisst das dann, dass wer in Zug lebt, in der besten aller Welten lebt?

Mit mir im Schwarm schweben junge Männer und Frauen. Ich komme auf den Gedanken, dass sich die Jungen hier gegen nichts auflehnen müssen. Gibt es eine Gesellschaft oder ein System, das besser ist als dieses hier, und in dem es sich mehr lohnen würde zu leben? Für Junge in der Schweiz ist das unvorstellbar. Und erst recht für die Jungen in Zug! Durch diese Vollkommenheit ist ihre politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Vorstellungskraft amputiert … Eine Jugend, die sich keine Gesellschaft oder Kultur vorstellen kann, die ihnen besser entspricht, als diese, in der sie aufwächst, mit dieser Jugend kann doch etwas nicht stimmen.

Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie kann man jung sein und nicht gegen etwas sein? Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen? Wie kann man jung sein und sich nicht die Freiheit vorstellen können? Wie kann man frei sein, wenn man sich nicht eine Welt vorstellen kann, in der es uns besser ginge als in der Welt, die uns als Aufgabe gestellt ist? Ist die verwirklichte Utopie gleichzeitig eine verwirklichte perfekte Anti-Utopie?

 

Die neue Verfassung


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Im Juli 2012 hat Radio DRS zwanzig Beiträge zum Thema „Ideen für die Schweiz“ gesendet. Sreten Ugričić und Melinda Nadj Abonji haben in ihrem Beitrag die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung modifiziert.

 

Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung – Original

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizervolk und die Kantone,

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

geben sich folgende Verfassung:…


Modifizierte Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung

Im Namen der Vorstellungskraft und der Wirklichkeit!

Alle, die in der Schweiz leben, alle Kantone und Spezialitäten, Kuchen und Würste, alle Berge, Bahnen, Banken, Bäder, alle Kinder, Higgs-Bosonen, Naturwunder, Frauen und Männer, alle Fabriken, Büros, Dächer und Häuser, Haustiere und Tiere, insbesondere alle Vögel,

in der Verantwortung gegenüber allem, was existiert – was um uns und in uns und in unserer Vorstellungskraft existiert –

im Bestreben, Frieden, Freiheit und Demokratie zu stärken, die Unabhängigkeit und den Nationalismus zu schwächen, um solidarisch und offen gegenüber der Welt zu handeln, im Bewusstsein, dass wir alle winzige Sterne im Universum sind,

im lebendigen Bemühen, Ähnlichkeit und Verwandtschaft untereinander wahrzunehmen, um so Verständnis und Vertrauen zu ermöglichen, um Hierarchien zu vermeiden,

im Eingeständnis, dass die gegenwärtige Gemeinschaft, so, wie sie ist, Anteilnahme und Hinwendung erfordert, im Bewusstsein der Verantwortung also gegenüber Kindern und Kirschen, Piloten und Nonnen, Büchern, schwarzen Löchern, Orbits, Sprüngen und Gedanken,

gewiss, dass nur frei ist, wer seine oder ihre Freiheit in Anspruch nimmt, die Stärkeren sich beispielsweise um das Wohl der Schwächeren kümmern, um die Kranken und Verletzten, Hungernden, Hilfe suchenden, um die Pusteblumen, Spinnweben, um Staub und Wolken, insbesondere um die Papierlosen,

geben sich folgende Verfassung:…

Nachsatz

Die vorliegende modifizierte Präambel ist in keiner offiziellen Sprache der Schweizerischen Konföderation geschrieben und verfolgt nur ein utopisches Ziel. Demzufolge besitzt sie vollumfängliche gesetzliche Gewalt.

Premiere DAS LEBEN IST AUSLAND

22. Mai 2012, um 20 Uhr 30, Theater am Neumarkt, Chorgasse 5.

Sreten (Belgrad) liest aus seinem neuen Roman “An den unbekannten Helden”.
Jurczok 1001 stellt den Gast künstlerisch vor.
Das Publikum begrüssen Goran Potkonjak und Melinda Nadj Abonji.

Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:

THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch

INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch

Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten.

S. 13
Was ist ein Prinzip?
Geschichte ist alles, was die Geschichte erlaubt. Natur ist alles, was die Natur erlaubt. Gott ist alles, was Gott erlaubt. Mensch ist alles, was der Mensch erlaubt. Wahrheit ist alles, was die Wahrheit erlaubt. Prinzip ist alles, was das Prinzip erlaubt.
Das Prinzip wird von Menschen und von deren Handlungen erschaffen.

S. 14
Eines der Prinzipien.
Dass nichts bleibt. Möge dies eines der Prinzipien sein. Wenn es für uns schon keinen Ausweg gibt.

Noch eines der Prinzipien.
Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: Freiheit oder Tod. Ja oder Nein. Alles oder Nichts. Das Prinzip des ausgeschlossenen Zweiten: Terrorismus. Wenn Unschuldige sterben müssen, so mögen sie sterben. Das Prinzip des ausgeschlossenen Ersten: Gott schweigt. Princip ist Prinzip.

Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić). Dittrich Verlag, Berlin 2011.

Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten.

S. 21
Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem eurer Schritte. Der erste lautet: Serbien ist schaurig. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Wie gut, dass es nicht existiert. Dann wieder eine leere Stufe. Danach:Serbien ist wunderbar. Dann eine Pause. Danach: Wie schade, dass es nicht existiert. Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … dem Serbien in meinem Herzen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später seid ihr auf der Strasse, ihr schreitet gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Dann nach links, hinunter zur Brücke, zum Wasser, zu mir.
Das Wasser ist da, um aus der Tiefe zu leuchten.

S. 37
Der Querschnitt eines Apfels legt einen fünfzackigen Stern frei. Der Längsschnitt des Apfels verdeckt den fünfzackigen Stern. Der Querschnitt eines Weihnachtsbaums legt eine Schneeflocke frei. Der Längsschnitt des Weihnachtsbaums verdeckt die Weihnachtsgeschenke. Der Querschnitt der Milchstrasse legt eine spiralförmige Himmelsrutsche frei. Der Längsschnitt der Milchstrasse verdeckt die spiralförmige Himmelsrutsche. Der Querschnitt eines Bleistifts legt eine totale Sonnenfinsternis frei. Der Längsschnitt des Bleistifts verdeckt die totale Sonnenfinsternis und legt einen dünnen Pfeil frei. Der Querschnitt einer weissen Taube im Flug legt Christus am Kreuz frei. Der Längsschnitt der weissen Taube ist tödlich, aber drei Tage später wird die weisse Taube wiederauferstehen. Der Querschnitt einer Frau im Koma legt das Leben frei. Der Längsschnitt der Frau im Koma verdeckt die Freudentränen. Der Querschnitt des Schwarzen Meeres in der Tiefe, zu der kein Licht vordringt, legt Schwärme fluoreszierender Quallen frei. Ein Längsschnitt des Schwarzen Meeres ist nicht möglich.

S. 60
Ich fahre bis zur letzten Haltestelle, die die erste ist. Hier muss ich aus der U-Bahn aussteigen, wieder hinaus auf die Strasse. Die Rolltreppe funktioniert nicht, ich steige zu Fuss hinauf, als würde ich auftauchen, hinein in das Morgenlicht der Welt und der Stadt. Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem meiner Schritte. Der erste lautet: Hallo. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Hast du Lust zu ficken? Dann wieder eine leere Stufe. Danach: Ich dich oder du mich? Dann eine Pause. Danach: Ich dich? Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … deinen Wünschen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später bin ich auf der Strasse, ich schreite gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Ich gehe für dich.

S. 65
Die Wohnung liegt in Trümmern. Alle Sachen sind durcheinandergeworfen und zerbrochen, alle Wände abgewetzt und zerfurcht, alle Böden und Decken aufgerissen, alle Leitungen und Installationen entblösst und ausgerupft, alle Schlösser und Türgriffe herausgerissen, alle Geräte kaputtgeschlagen, die Eingeweide freigelegt, die lebensnotwendigen Organe verschwunden, die Vorhänge an den Ecken zerknittert, plattgetreten und schmutzig, alle Betten auseinandergenommen und an die Wand geworfen, alle Spielzeuge liegen jedoch ordentlich aufgeräumt in einer Kartonschachtel, um die eine Seidenschleife mit dem Schriftzug des GDÖP, des Geheimdienstes und der Öffentlichen Polizei gewickelt ist. Im Nebenzimmer schluchzt jemand. Und kratzt mit den Nägeln an die Tapete. Hör auf damit, denke ich. Die Schluchzer hören auf. Hör auf damit, denke ich wieder. Das Kratzen hört auf. Hör auf damit, denke ich. Im Nebenzimmer ist niemand mehr. Dann gehe ich hinaus, stürze die Treppe hinunter, wie ein Bach durch das Grün, auf der Strasse sind scheinbar die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche, die gleichen Leben, die gleichen Wahrheiten, die gleichen Giftstoffe, die gleichen Ströme in den Fernleitungen, die gleichen Düsenflugzeuge in der Höhe, die gleichen Minerale im Asphalt und im Beton und in unseren Knochen, du bist der Gleiche in mir, in Gedankenschnelle mitten ins Knochenmark eingebaut, scheinbar der gleiche Tag, das gleiche pulsierende Protoplasma.

Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić).
Dittrich Verlag, Berlin 2011.

Zwei Ausschnitte aus “Elf Thesen über Bach”. Von Sreten.

Jean-Luc Godard sagt: „Durch Kunst ist es uns möglich, uns umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben.
“ Wenn jemand fragt: na gut, das mag etwas mit Serbien zu tun haben, aber was hat es mit Bach und den Deutschen zu tun, heute, im Jahre zweitausendelf nach Christus? Eine diplomatische Antwort könnte lauten: Liebe Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Deutschsprachige, die zeitgenössische Literatur aus Serbien macht es euch möglich, euch umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben. Euch selbst zu sehen und besser zu verstehen, ohne daran zu sterben. Wie uns bereits seit Hamlet bekannt ist, dass jedes Land ein bisschen Dänemark ist, so zeigt uns die zeitgenössische Literatur aus Serbien, dass jedes Land ein bisschen auch Serbien ist. Serbien sehen und verstehen, wie die Dinge liegen, und am Leben bleiben. Aber in erster Linie muss es natürlich heißen: Liebe Bürger Serbiens und aller Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, durch die zeitgenössische Literatur aus Serbien ist es euch möglich, euch umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben. In jedem Serbien steckt ein bisschen Serbien drin. In jedem Dänemark steckt ein bisschen Dänemark drin. So wie in jedem Witz ein bisschen Witz drinsteckt. So wie an jeder Wahrheit etwas Wahres dran ist.

Der ästhetische und der ethische Standpunkt sind zwei Gesichter, zwei Aussagen, zwei Formen der gleichen Macht, der gleichen Kompetenz: Das ist, in der Sprache Kants, die Macht des interesselosen Urteils. Was haben Gewissen, Denken, Wissenschaft und Kunst gemeinsam? Im Gewissen, im Denken, in der Wissenschaft und in der Kunst gibt es kein Interesse und keine Kompromisse, auch keine erhabenen, nationalen, heiligen oder sonstigen. Für alles gilt: Entweder ist es unbedingt, oder es ist nicht. Entweder ist es kompromisslos und interesselos, oder es ist nicht. Es nimmt, Gott sei es gedankt, keinerlei Rücksicht auf Zugehörigkeit, Interesse, Bedürfnisse, Verwandtschaft, Heimat… Sowohl dem Gewissen, als auch dem richtigen Schlussfolgern, als auch wissenschaftlichen Tatsachen, und Kunstwerken wohnt eine unabhängige, unbestechliche Gesetzmäßigkeit inne. Entweder ist diese Gesetzmäßigkeit am Werk, oder sie ist es nicht – Nachahmungen, gute Absichten, lärmende Rhetorik und höhere Interessen gelten hier nicht – entweder es gibt ein Gewissen, oder es gibt keines, entweder es gibt Logik und Wahrheit, oder es gibt keine, entweder es gibt die Kunst, oder es gibt sie nicht.

Sreten Ugričić, Elf Thesen über Bach. In: Briefe aus Belgrad, hg. v. Annemarie Türk. Wien 2011, S. 93-130.


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Words by Sreten, voice Melinda Nadj Abonji, music Balts Nill.

“A warning to the police from a library terrorist: in the hall of the CCB there will be an explosion – not of a bomb, but of all of us present. And we shall win. Because, as you know: whoever attacks writers with a nightstick is defeated and hated from the start; while the one who reads – wins!”

Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten Ugričić.

S. 109
Telepathie ist unsere Übereinkunft und unsere Komplizenschaft. Telepathie ist unsere Geheimsprache in dieser
feindlichen Umgebung und Zeit, im eigenen Land. Telepathie ist unser Gehör und unsere Stimme, in jeder Lage
erkennen wir die Melodie und singen. Wir können immer mit unserem eigenen Kopf denken und verstehen, was
vor sich geht und was wir zu tun haben, und an welche Nächsten wir uns wenden und worauf wir hoffen können.
S. 111
Ich gehe wieder los, geführt von einem Klang, ich gehe in die Kirche, ich gehe aus Verzweiflung,
ich gehe, um Gott und Menschen zu treffen, obwohl ich denke, dass Gläubige ungläubig sind, weil
sie nicht an diese Welt, so wie sie ist, glauben, sondern an eine andere Welt, obwohl ich denke, dass
Ungläubige die wahren Gläubigen sind, weil sie an diese Welt, so wie sie ist, glauben, und nicht an eine
andere, wer weiss was für eine Welt, so also denke ich, so ist es auch kein Wunder, dass mein Tempel
weit weg ist, weit weg, der Weg ist lang, aber ich bin schon unterwegs, ich gehe langsam, ich gehe leichten Schrittes,
der Klang führt mich, ich bin frisch gebadet und habe einen klaren Blick, darin spiegeln sich Verzweiflung und
Freude darüber, dass die Wahrheit sichtbar ist – komme, was wolle.

Sreten Ugričić: An den unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić). Dittrich Verlag, Berlin 2011.