DAS LEBEN IST AUSLAND präsentiert KROKODIL

Gäste: Vladimir Arsenijević, Daša Drndić, Sreten
Moderation: Melinda Nadj Abonji, Goran Potkonjak
Musik: Jurczok 1001
Gaumenfreude: Dario DeNicola

Der Verein KROKODIL und sein gleichnamiges regionales Literaturfestival wurden 2009 gegründet. Das erklärte Hauptziel von KROKODIL war und ist es, die Verbundenheit und den Austausch zwischen den Kulturen unterschiedlicher Länder zu fördern – gerade auch wegen dem gewaltsamen Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens in Nationalstaaten.

Mittlerweile hat KROKODIL mit seinem eigenwilligen Festivalkonzept und der Versammlung der spannendsten literarischen Stimmen in Exjugoslawien Kultstatus erlangt: Autoren und Autorinnen lesen in ihrer Originalsprache aus ihren Texten, die Übersetzung wird auf eine Leinwand projiziert. Zu den Texten werden Bilder gezeigt, die Künstler und VJs konzipiert und ausgewählt haben.

Im Centopassi werden Sie die Gelegenheit haben, die genaueren Hintergründe zu erfahren, warum KROKODIL gegründet wurde und in welchem kulturpolitischen Umfeld das Festival und der Verein sich heute bewegen. Darüberhinaus lesen Daša Drndić, Vladimir Arsenijević und Sreten aus ihren Texten; der Lyriker und Musiker Jurczok 1001 wird live intervenieren.

WELCOME KROKODIL!
Wir freuen uns auf Sie, auf Euch!

27. Oktober, 19 Uhr im Cento Passi, Stauffacherstrasse 119, hundert Schritte vom Helvetiaplatz entfernt.
Eintritt: 20.- CHF, mit Legi 15.-CHF

https://www.youtube.com/watch?v=oC5JBxuNfKs
https://www.youtube.com/watch?v=OtjWUD2m0F8
http://www.krokodil.rs

„Gefangenitits“ oder die historische Erfahrung meines Grossvaters. Von Vladimir Arsenijević

Der Zweite Weltkrieg erwischte den Stiefvater meiner Mutter, einen Offizier der jugoslawischen königlichen Armee, im Dienst im herzegowinischen Nevesinje. In einem Pavillon für Offiziere in unmittelbarer Nähe zur Kaserne wohnte er mit seiner Ehefrau, meiner Grossmutter, einer jungen Witwe, deren erster Mann tragisch das Leben verloren hatte, und mit ihrer Tochter, meiner Mutter, die er annahm als wäre sie seine eigene. Ein Jahr vor dem Krieg wurde auch meine Tante geboren, die Halbschwester meiner Mutter.

In Nevesinje lebten sie so gut es eben ging – die Stadt hatte in dieser Zeit noch nicht einmal Strom – doch mit der Hoffnung, in einigen Jahren an einen besseren Ort umzuziehen. Nach Sarajevo, zum Beispiel. Und vielleicht einmal, mit etwas Glück und guten Beziehungen, sogar nach Belgrad!

Der Krieg, der im April 1941 ausbrach, hinderte sie jedoch daran. Für immer. Alle Pläne vernichtete er in einem Zug und zerstreute ihre zerbrechlichen Leben, die bis dahin zusammengehalten wurden von dem durch nichts begründeten Glauben an dieses „bessere morgen“, welches in Wirklichkeit nirgendwo in Aussicht war.

Nach raschem Abschied von seiner Frau und seinen Kindern ging mein Grossvater in den Krieg. Seine Frau wird er nie mehr sehen – sie wird sterben, erschöpft, in jenen ersten schweren Nachkriegsjahren im serbischen Požarevac – und die Töchter wird er erst viele Jahre später treffen. Bis zum Zusammenbruch Jugoslawiens (das Königreich Jugoslawien kapitulierte am 17. April 1941 vor den Achsenmächten, Anm. des Übersetzers) kämpfte er in der Umgebung von Nevesinje gegen die Italiener, dann wurde er gefangen genommen und mit einer Gruppe anderer Offiziere in das so genannte Campo 64 in den Norden Italiens verfrachtet.

So endete der Krieg für ihn gleich da, gleich zu Beginn. In den folgenden zweieinhalb Jahren sah er zu, dass er irgendwie zurecht kam mit der Einsamkeit, der Hilflosigkeit, der Rechtlosigkeit, dem Hunger sowie mit dem akuten Mangel an Informationen darüber, was in der Aussenwelt geschah. Durch die dichten Rollen des Stacheldrahtes und die Gitter an den Barackenfenstern beobachtete er die Jahreszeiten, wie sie sich abwechselten an den milden Hügeln und an den massiven, dunklen Ablagerungen der Dolomiten im Hintergrund und diese fast unwirkliche Schönheit der Natur machte seine armselige Lage nur noch schwerer.

Wie viele andere ging auch mein Grossvater in den Krieg bereit zu sterben oder schwer verletzt zu werden, nicht aber um in Gefangenschaft zu geraten. Der Mangel an Freiheit nagte an ihm Tag für Tag. Wie die Zeit fortschritt, wurde er sich selbst immer unerträglicher. Das einzige, was er wirklich wünschte, war, sich hinzulegen, die Augen zu schliessen und irgendwohin zu schweben, wohin auch immer. Wenn möglich für immer. Wandte sich ihm jemand zu, erwachte in ihm eine irrationale Wut. Er hasste alles und jeden. Er war sicher, den Verstand zu verlieren.

Er war nicht der einzige. Zwar durften die gefangenen Offiziere ihre Uniformen behalten und tragen, sie erhielten täglich zwei (wenn auch magere) Mahlzeiten und es stand ihnen sogar eine Krankenstation zur Verfügung – all dies konnte sie aber nicht vor schwerer Verzweiflung retten. Die Atmosphäre in den Gefangenenbaracken wurde immer schlimmer. Die einstigen Mitkämpfer und Freunde teilten sich in Lager auf und beschuldigten einander für Dieses und Jenes und aus allen möglichen Gründen. Und alle Jugoslawen zusammen befanden sich oft auch in verschiedenen sinnlosen Streitigkeiten mit Angehörigen anderer Nationalitäten: mit Iren, Schotten, Engländern, Neuseeländern, Australiern usw., mit welchen sie gezwungen waren, das vollgestopfte Lager zu teilen.

Diesen Zustand der kolossalen Apathie und Trägheit gemischt mit unkontrollierten Ausbrüchen irrationalen Hasses gegen alles, was sich bewegt, so auch gegen sich selbst, nannten sie einfach „Absterben“. Erst später erfuhren sie, dass britische Offiziere schon eine etwas geistreichere Bezeichnung für das gleiche Syndrom erdacht hatten: „Gefangenitis“, nach dem deutschen Wort „gefangen“. Die Gefangenenkrankheit also. Der äusserste Verlust von Lebensenergie, Schlaflosigkeit, Paranoia, verschiedenste neurotische Symptome, Hypochondrie, Hysterie und ein chronischer Geruch des Todes in der Nase, das ist es, was mein Grossvater wie auch die Mehrheit der anderen Gefangenen in Kriegslagern im Norden Italiens von 1941 bis 1943 erlitt.

Und als es im Spätsommer 1943 zum Zusammenbruch des faschistischen Italiens kam, verliessen die Wächter wortlos die Lager und liessen die Tore weit offen. Die Mehrheit der Gefangenen ging damals zu Fuss über die Alpen und erreichte irgendwie die Grenze zur Schweiz, wo sie schliesslich auf freiem Territorium empfangen wurden. Aber nicht als freie Menschen.

Von neuem wurden sie interniert in eine Art Empfangszentren. Obwohl dort die Bedingungen bedeutend humaner waren als in den Lagern, aus welchen sie geflohen waren, mussten sie warten, bis ihr Status rechtlich gelöst war und es verging noch ziemlich viel Zeit, bevor man ihnen provisorische Papiere und dann die so genannten Nansen-Pässe bewilligte, ein Reisedokument für Flüchtlinge, welches von dem damaligen Völkerbund herausgegeben wurde. Der Krieg war schon vorbei, als ihnen als politische Asylanten die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in der wohlhabenden, angenehmen, schönen und von kriegerischer Zerstörung verschonten Schweiz genehmigt wurden.

In der Zeit, aus der ich mich an ihn erinnere, in der Mitte der 70er Jahre, war mein Grossvater bereits Rentner in ehrenwertem Alter, einfach angezogen, aber mit einer Art Reinheit und Ordentlichkeit, die in der Zwischenzeit völlig verschwunden sind. Es gibt heute nichts mehr so Gestärktes, wie seine Hemden es waren, nichts mehr so richtig und glatt Gebügeltes, wie es die Linien seiner Stoffhosen waren oder das Revers seines Mantels, nichts Glänzenderes als seine immer polierten Schuhe und nichts Steiferes als seinen Hut mit schmaler Krempe. Er ging sehr gerade, mit der Spitze seines Stockes auf die Zürcher Bürgersteige und Kopfsteinpflaster klopfend. Obwohl er bescheiden lebte, wirkte dies damals auf mich so, als sei für ihn dieser ganze Glanz, der mich blendete, äusserst natürlich.

Heute aber sehe ich ein, dass dies gar nicht zutreffen konnte und dass sich mein Grossvater als absoluter Fremder fühlen musste in einer Umgebung, der er auf der einen Seite lebenslang dankbar war und die ihm gegenüber wohlwollend war, in der er aber trotzdem in einer unaufhörlichen, stillen Erniedrigung lebte. Da die Schweiz die Militärschulen, die er abgeschlossen hatte, nicht anerkannte, blieb ihm nichts anderes als die Anstellung als Arbeiter in einer Kugellagerfabrik. Eine Wahl hatte man im Übrigen beinahe nicht, er steckte fest, nach Hause konnte man nicht und er machte einfach das, was er musste

Aber als die Jahre vorüber gingen, kehrte jene Gefangenenmelancholie immer öfter zurück, um ihn heimzusuchen. Er schleppte sich still und lustlos durch das Leben, er kam nicht voran, auf das Ende seines Arbeitslebens wartete er in der Fabrik, Deutsch sprach er mit Schwierigkeiten, er heiratete nicht noch einmal, er ging nie nach Jugoslawien zurück, sogar nicht einmal als es wieder möglich war, er wurde auch nie Schweizer, er blieb für immer ein Besitzer des Nansen-Passes, ein Staatenloser, ein lebenslanger Flüchtling und ein lebenslanger Lagerhäftling angesteckt mit dem unheilbaren Virus der Gefangenitis.

Die Winterferien 1975 verbrachte ich bei ihm in Zürich. Ich war damals zehn Jahre alt. Das war das erste Mal, dass ich alleine ins Ausland reiste. Und es gefiel mir sehr mit ihm in diesen kalten Januartagen. Zwar wunderte ich mich über seine Gewohnheit, den herben Schweizer Käse Greyerzer auf mit Aprikosenkonfitüre bestrichenem Schwarzbrot zu essen wie auch Blutorangen, die er, wie ich denke, kaufte, weil sie die billigsten waren. Ich wunderte mich über seine unverständlichen Geschichten aus der Gefangenschaft wie auch darüber, dass er unverhohlen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und den Genossen Tito hasste, aber ich muss gestehen, dass er sich trotz allem, was mich an ihm verwirrte, mit mir so beschäftigte wie man von einem Grossvater, der nicht nur das Aufwachsen des Enkels, sondern auch der eigenen Tochter verpasst hatte, überhaupt nur erwarten konnte.

Er führte mich zum Mittagessen in sein Lieblingsrestaurant, dann zum Zürichsee, um Schwäne zu füttern, er führte mich in den Zoo, ins Schwimmbad und auf lange Spaziergänge durch die Stadt, ja sogar in die Kneipe, wo er sich jeweils am Samstagabend mit seinen Freunden traf, den ehemaligen Offizieren, mit denen er einmal vor langer Zeit aus dem Lager Campo 64 geflüchtet war, um einen-zwei zu trinken und einige Runden Karten zu spielen. Als wir nach Hause gingen, war es schon spät und sehr kalt. Ich hielt seine Hand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, wirklich einen Grossvater zu haben.

Zu dieser Zeit liebte ich es, unbekannte und merkwürdige Wörter zu sammeln. Und als ich am letzten Tag meines Aufenthalts in Zürich meinen Grossvater bat, auf die letzte Seite meines Heftes ein unbekanntes Wort zu schreiben, dachte er nach, dann dachte er noch einmal nach, dann lächelte er über sich selbst und schrieb mit zitternder Handschrift: Gefangenitis.

„Gefangenitis“, las ich mit Bewunderung. „Was heisst das?“

„Das ist eine ekelhafte Krankheit, die ich mir in der Gefangenschaft zugezogen habe“, sagte mein Grossvater und streichelte mir über den Kopf. „Und niemals habe ich mich von ihr vollständig erholt“.

Ich flog zurück nach Hause, dieses ungewöhnliche Wort im Munde wendend. Mein Grossvater zog kurz danach, ich denke noch im gleichen Jahr, aus seiner Wohnung in der Berninastrasse in Oerlikon in ein Quartier, in welchem ausschliesslich Rentner mit tiefem Einkommen, wie er einer war, wohnten. Ich sah ihn nur noch einmal, als Schwester, Mutter, Vater und ich ihn im Sommer 1978 besuchten. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Grossvater erzählte wieder von der Zeit, die er im italienischen Lager verbrachte und ich hörte ihm damals mit verstärkter Aufmerksamkeit zu. Aber danach dachte ich lange nicht an ihn. Ich war wie jeder Pubertierende hoffnungslos und ausschliesslich auf mich selbst konzentriert. Und mein Grossvater unterschrieb ruhig den Pakt mit dem Alter. Ich habe den Eindruck, dass er es mit Vergnügen angenommen hat. Zehn Jahre später empfing ihn in Oerlikon der stille Tod.

Viel mitzunehmen hatte er nicht. Lediglich seine Einsamkeit, seine beunruhigende historische Erfahrung sowie seine chronische Krankheit, Gefangenitis.

Erst kürzlich bin ich nach vielen Jahren wieder in die Schweiz gereist. Ich hatte Lesungen in Basel und Thun und nutzte den letzten Tag meines kurzen Aufenthaltes, um einige Stunden allein in Zürich zu verbringen, in der Stadt, die ein wichtiges Toponym meiner Kindheit und meines Erwachsenwerdens darstellt.

Und Zürich erwartete mich tatsächlich elegant und wunderschön, so wie ich mich an es erinnerte, aber gänzlich fremd. Ich spazierte in der Gegend um den Hauptbahnhof, beobachtete das ruhige Flusswasser der Limmat, versuchte erfolglos mich an die gemeinsamen Wege mit dem Grossvater zu erinnern, ging die steilen Treppen der Altstadt hinauf und durch die engen Strassen, die nach Parfum duften, umgeben von Reichtum und Luxus, und in einem Augenblick fühlte ich mich unendlich isoliert von all dem, von diesem schweizerischen, durch Jahrhunderte hindurch gefestigten Wohlstand, der in einem solch scharfen Kontrast mit meiner Lebensumgebung und mit meiner historischen Erfahrung stand, genau gleich wie er in Kontrast mit der Lebensumgebung und der historischen Erfahrung meines Grossvaters stand, eines lebenslangen Staatenlosen, eines Menschen ohne Heimat, ohne Familie, ohne Ideologie, ohne Beruf, ohne Sinn, ohne Freiheit.

Und ich erinnerte mich an seine schwere Gefangenenmelancholie wie auch an all die Kriege, durch die wir von Generation zu Generation gingen sowie an verschiedene andere Tragödien und Verrücktheiten unseres Zeitalters, welche wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, auf den Schultern zu tragen gezwungen sind. Auf der Spitze des Hügels stehend, betrachtete ich die reiche Stadt, wie sie sich unter mir ausbreitete und fühlte stärker als je zuvor, dass wir alle nur Gefangene dessen sind, was wir „historische Erfahrung“ nennen, Blätter in unruhigem Wind, unfähig auf irgend etwas Einfluss zu nehmen, sich selbst oder anderen zu helfen, die eigene schlechte Umgebung zu ändern, rechtlos, unfrei und – genau wie mein armer, verstorbener Grossvater, der es nie schaffte, vollkommen Herr seines eigenen Schicksals zu werden – lebenslang infiziert mit dem Virus einer unheilbaren Krankheit, der Gefangenitis.

Aus dem Serbischen übersetzt von Jan Dutoit. Eine gekürzte und leicht abgeänderte Version erschien am 24.11.2011 in der WOZ (Nr. 47, S. 21) unter dem Titel „Die seltsame Krankheit meines Grossvaters“.

Vladimir Arsenijevic (1965) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Serbiens. Bevor er 1994 mit seinem Antikriegsroman „U potpalublju“ (auf Deutsch erschien der Roman 1996 unter dem Titel „Cloaca Maxima. Eine Seifenoper“), der als Kultbuch einer Generation gilt, debütierte, spielte er in den achtziger Jahren in einer der ersten Belgrader Punkbands, absolvierte eine Kochausbildung und verbrachte mehrere Jahre in London. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller bemüht er sich seit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien als Verleger und Organisator von Literaturfestivals um eine stärkere Vernetzung der Literaturszenen in der Region. Arsenijevic lebt und arbeitet in Belgrad. Ende September war er zu Gast im Literaturhaus Basel und am Literaturfestival Literaare in Thun (siehe WOZ Nr. 37/11)